Im Fokus

Wenn Arzneimittel knapp werden

Zu Ursachen und Lösungsmöglichkeiten bei Engpässen

 

Berlin (pag) – Patienten bleibt das Problem meist noch verborgen, dabei warnen Experten längst vor nicht hinnehmbaren Zuständen und einer Eskalation: Die Rede ist von Arzneimittelengpässen. Der Gesetzgeber hat mit dem Arzneimittelversorgungsstärkungsgesetz (AMVSG) jetzt reagiert, doch vielen geht diese Initiative nicht weit genug.

Bei der Plenardebatte im Bundestag anlässlich der AMVSG-Abstimmung spricht der SPD-Gesundheits-politiker Prof. Karl Lauterbach von „nicht hinnehmbaren Zuständen“. Damit meint er: In Krankenhausapotheken seien zwischen 30 bis 50 Arzneimittel, die für Patienten unbedingt notwendig seien, nicht erhältlich – entweder zeitweilig oder sogar ständig (siehe Infokasten: Wie viele versorgungskritische Arzneimittel fehlen?). Für den Politiker auch deshalb ein Armutszeugnis, weil der Patient davon nichts erfahre. „Ein krebskrankes Kind zum Beispiel wird dann mit einer Kombinationstherapie behandelt, die nicht optimal ist, weil das entsprechende Medikament (…) nicht vorrätig ist, und die Eltern und auch das Kind erfahren nie, dass eine andere Behandlung eigentlich sinnvoll gewesen wäre.“ Gleichzeitig, fährt Lauterbach fort, würden die dringend benötigten Medikamente bisweilen im Ausland – zu teilweise höheren Preisen – verkauft oder sie würden beim Großhandel gelagert, um dort für die niedergelassenen Onkologen über die Lieferkette bezahlt zu werden.

Krankenhausapotheker stoßen an ihre Grenzen

Das vom Bundestag verabschiedete AMVSG sieht nun eine Verpflichtung der pharmazeutischen Unternehmer vor, die Krankenhäuser zu informieren, sobald ihnen Kenntnisse über Lieferengpässe bei bestimmten Arzneimitteln vorliegen. Die Krankenhausapotheke hat dann die Möglichkeit, über die 14-Tage-Regelung hinaus das Arzneimittel im Ausland einzukaufen und zu bevorraten.
Grundsätzlich begrüßen die Krankenhausapotheker die neue Regelung. „Wir sind mittlerweile an unsere Grenzen gestoßen, das Thema eskaliert“, hat erst kürzlich Dr. Torsten Hoppe-Tichy auf einer Pressekonferenz der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie (DGHO) festgestellt. Hoppe-Tichy ist Leiter der Krankenhausapotheke am Universitätsklinikum Heidelberg. Er berichtet, dass dort inzwischen eine Vollzeitkraft jeden Tag damit beschäftigt sei, die Folgen der Lieferunfähigkeiten für die Klinik und die Patienten abzumildern.
Der Pharmaverband Pro Generika hält dagegen die Informationspflicht für wenig nachhaltig. Er twittert: „Manche rufen bei Arzneimittelengpässen v.a. nach mehr Informationen – Rauchmelder löschen aber kein Feuer“.

STUDIE: WIE VIELE VERSORGUNGSKRITISCHE ARZNEIMITTEL FEHLEN?
Aus einer vom Bundesverband Deutscher Krankenhausapotheker (AKDA) durchgeführten Umfrage bei Krankenhausapotheken geht hervor, dass eine bedenkliche Anzahl versorgungskritischer Arzneimittel in Kliniken fehlen. Betroffen seien im wesentlichen Arzneimittel, die nur für den Klinikmarkt hergestellt werden, darunter viele Lösungen zur Injektion wie Antibiotika, Krebsmedikamente und Anästhetika. „Insgesamt sind Arzneimittel mit 280 verschiedenen Wirkstoffen nicht verfügbar gewesen, darunter 30, die die jeweilige Klinikapotheke als versorgungskritisch einstuft“, so der ADKA-Präsident Rudolf Bernard. Von den betroffenen Arzneimitteln dieser 30 Wirkstoffe meldeten die verantwortlichen Hersteller lediglich acht an das BfArM. Befragt wurden Krankenhausapotheken mit einer Versorgungsrelevanz von über 30.000 Betten und damit über sechs Prozent der nationalen Krankenhauskapazitäten.

Aus einer vom Bundesverband Deutscher Krankenhausapotheker (AKDA) durchgeführten Umfrage bei Krankenhausapotheken geht hervor, dass eine bedenkliche Anzahl versorgungskritischer Arzneimittel in Kliniken fehlen. Betroffen seien im wesentlichen Arzneimittel, die nur für den Klinikmarkt hergestellt werden, darunter viele Lösungen zur Injektion wie Antibiotika, Krebsmedikamente und Anästhetika. „Insgesamt sind Arzneimittel mit 280 verschiedenen Wirkstoffen nicht verfügbar gewesen, darunter 30, die die jeweilige Klinikapotheke als versorgungskritisch einstuft“, so der ADKA-Präsident Rudolf Bernard. Von den betroffenen Arzneimitteln dieser 30 Wirkstoffe meldeten die verantwortlichen Hersteller lediglich acht an das BfArM. Befragt wurden Krankenhausapotheken mit einer Versorgungsrelevanz von über 30.000 Betten und damit über sechs Prozent der nationalen Krankenhauskapazitäten.

„Unser Erste-Hilfe-Koffer steht in China“

Einig dürften sich alle Beteiligten zumindest darüber sein, dass Arzneimittelengpässe ein sehr komplexes Problem sind. Einem Engpass können verschiedene Ursachen zu Grunde liegen; die DGHO nennt: Bedarfssteigerung, Preisgestaltung und Marktrücknahmen (siehe Infokasten: der Fall Osimertinib) sowie Herstellungsprobleme. Den Zulassungsbehörden zufolge sind 90 Prozent der Lieferengpässe durch Qualitätsmängel bei der Herstellung bedingt. Weltweit führend in der Produktion sind Indien, China und die USA.
Stichwort globale Arzneimittelproduktion: Um deren Folgen ging es vor einiger Zeit bei einer Veranstaltung von Pro Generika. „Unser Erste-Hilfe-Koffer steht in China“, hat dort Dr. Markus Leyck Dieken, Vorstandsvorsitzender des Verbandes und Geschäftsführer Teva/ratiopharm, festgestellt. Einer Roland-Berger-Studie zufolge stammen 80 Prozent der in Deutschland verbreiteten Intermediates und Antibiotika-Wirkstoffe aus dem Ausland. China und Indien seien Hauptherkunftsländer. Anders ausgedrückt: Deutschland hängt am Tropf von China und Co. Im Falle eines Krankheitsausbruchs drohten Liefer- bis hin zu Versorgungsengpässe, heißt es in der Studie, da Export-Länder zunächst die lokale Versorgung mit Medikamenten sicherstellten. Das Beispiel der Wirkstoffkombination Piperacillin/Tazobactam hat zudem eindrücklich gezeigt, dass auch andere Ergebnisse die Versorgung in Deutschland einschränken können, wenn etwa in China eine Produktionsstätte explodiert. Die Autoren der Studie schlagen daher vor, die Antibiotika-Produktion wieder partiell nach Deutschland zurückzuverlagern. Für Pro Generika ist das Problem der Engpässe zudem eine Steilvorlage, um sich für eine verpflichtende Mehrfachvergabe bei Antibiotika-Rabattverträgen stark zu machen.

DER FALL OSIMERTINIB – DAS PROBLEM DER MARKTRÜCKNAHMEN
Zu einem versorgungsrelevanten Arzneimittelengpass kam es Ende des vergangenen Jahres beim Lungenkrebsmedikament Osimertinib. Vorausgegangen war ein Streit des Herstellers mit dem GKV-Spitzenverband über den angemessenen Preis.
Im Vorfeld hatte der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) im Rahmen des AMNOG-Verfahrens den Zusatznutzen von Osimertinib auf Basis der vorgelegten Daten als „nicht belegt“ festgelegt. Dies hatte den Hersteller zur Marktrücknahme bewogen. Zwar hätten alle am Verfahren Beteiligten innerhalb ihrer eigenen Regeln Recht, „den Schaden aber haben die Patientinnen und Patienten getragen“, kritisiert Prof. Diana Lüftner aus dem DGHO-Vorstand. Mittlerweile könne das Medikament – wenn auch mit administrativem Mehraufwand – über internationale Apotheken bezogen werden.

Vom Liefer- zum Versorgungsengpass

Lieferengpässe betreffen vor allem Hersteller und Apotheker, aus ärztlicher Perspektive wird es kritisch in Situationen, in denen der Lieferengpass eines bestimmten Präparates Auswirkungen auf die Versorgung der Patienten hat. Besonders problematisch kann das in der Onkologie werden. „Dass ein nicht lösbarer Lieferengpass über einen nicht vermeidbaren Versorgungsengpass zu einer Verschlechterung der Prognose eines Patienten führt, muss mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln verhindert werden“, schreibt die DGHO in ihrer neuen Publikation „Arzneimittelengpässe am Beispiel der Hämatologie und Onkologie“. Die Fachgesellschaft plädiert unter anderem für die Implementierung eines Registers mit Meldepflicht – nach dem Vorbild der amerikanischen Zulassungsbehörde FDA. Der pharmazeutische Unternehmer sei zu verpflichten, drohende und existierende Engpässe sowie deren Beendigung zu melden. Das 2013 beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) eingerichtete, auf freiwilligen Meldungen der Industrie beruhende Lieferengpass-Register funktioniert nach Einschätzung der Fachgesellschaft nur teilweise.

Noch drastischer drückt es Dr. Christopher Hermann, Vorstandschef der AOK Baden-Württemberg, aus: „Das Prinzip der Freiwilligkeit von Defektmeldungen durch die Pharmaindustrie hat versagt“, sagt er auf einer Pressekonferenz in Berlin. Die Regelungen im AMVSG hält der Kassenchef zwar für einen Schritt in die richtige Richtung, „es muss aber darüber hinaus um gesetzlich sanktionierbare Pflichten und Nachhaltung gehen“. Die Rolle des BfArM sei dringend dadurch zu stärken, dass Pharmaunternehmen Lieferprobleme und alle Akteure der Handelskette ebenso verpflichtend dem Bundesinstitut als Trustcenter regelmäßig ihre Lagerbestände übermitteln.

 

von links – Dr. Christopher Hermann – Vorstandsvorsitzender der AOK Baden-Württemberg – und Prof. Dr. Dr. Karl Lauterbach – SPD-Gesundheitsexperte und stellvertretender Vorsitzender der SPD-Bundestags-Fraktion © pag, Fiolka

BfArM: Liste engpassgefährdeter Arzneimittel

Beim Bundesinstitut findet der im Rahmen des Pharmadialogs vereinbarte Jour Fixe zum Thema „Liefer- und Versorgungsengpässe“ statt. Bereits drei Mal haben sich dort Fachkreise ausgetauscht, zuletzt am 31. März 2017. Anfang Mai hat das BfArM eine Empfehlung des Jour Fixe umgesetzt und erstmals eine Liste von Wirkstoffen veröffentlicht, die für die Versorgung der Gesamtbevölkerung als besonders relevant angesehen werden. Diese Liste ist für die Bundesoberbehörden wichtig, um zwischen gemeldeten Lieferengpässen von Arzneimitteln mit und ohne Versorgungsrelevanz zu unterscheiden. Die Übersicht enthält Wirkstoffe für verschreibungspflichtige Arzneimittel und beruht maßgeblich auf den Vorschlägen der medizinischen Fachgesellschaften unter Berücksichtigung der WHO-Liste der essentiellen Wirkstoffe. Sie werde regelmäßig aktualisiert und weiterentwickelt, kündigt das BfArM an. Arzneimittel aus dieser Liste, die mit einem besonderen Versorgungsrisiko verbunden sind, werden künftig engmaschig behördlich überwacht. Ein erhöhtes Versorgungsrisiko liegt beispielsweise vor, wenn es für das Arzneimittel nur noch einen Zulassungsinhaber oder einen Wirkstoffhersteller gibt und keine therapeutischen Alternativen bestehen, erläutert das Bundesinstitut. Es hofft, relevante Problemlagen schnell zu identifizieren und im Dialog mit den Herstellern Lösungswege anzustoßen.
Last but not least: Das BfArM hat angekündigt, dass seine Übersicht zu aktuellen Lieferengpässen künftig auch jene Meldungen beinhalten soll, die von den Zulassungsinhabern an die Krankenhäuser zu melden sind (§52b Abs. 3a Arzneimittelgesetz). Das Ziel: mehr Transparenz zur Versorgungslage für verschreibungspflichtige Arzneimittel in der stationären Versorgung.

Literaturtipp: Arzneimittelengpässe am Beispiel der Hämatologie und Onkologie.
Mit Übersicht zur Situation in anderen Fachgebieten. Gesundheitspolitische Schriftenreihe der DGHO , Band 9. Hrsg:C. Brokemeyer, M. Hallek, D. Lüftner und F. Weißinger. www.dgho.de/informationen/gesundheitspolitische-schriftenreihe/band-9-arzneimittelengpaesse/dgho_gpsr_IX_DE_web_und%20einleger_170309.pdf