Im Fokus

Begehrlichkeiten beim Morbi-RSA

Faire Wettbewerbsbedingungen für Krankenkassen gestalten

Berlin (pag) – Der Name ist sperrig, das Thema komplex: der Morbiditätsorientierte Risikostrukturausgleich, kurz Morbi-RSA. Damit bezeichnet wird ein 200 Milliarden schwerer Zuteilungsmechanismus an die 137 Krankenkassen in Deutschland. Um die Reform dieser Geldzuweisung wird momentan erbittert gerungen. Eine Einführung in das Thema.

Glück und Steuerungskompetenz gehören zum Flippern und zum RSA. © DutchScenery – iStockphoto

Krankenkassen haben – vor allem historisch bedingt – eine ungleiche Versichertenstruktur: Einige haben viele gut verdienende und gesunde Versicherte, andere mehr kranke Menschen und Beitragszahler mit niedrigem Einkommen. Seit 1994 gibt es einen Mechanismus, der diese Risikounterschiede zwischen den Krankenkassen in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) ausgleichen soll: der Risikostrukturausgleich (RSA). Er soll den Rahmen für faire Wettbewerbsbedingungen für die Krankenkassen gewährleisten. Der anfängliche Mini-RSA, der vor allem die Aufgreifkriterien Alter und Geschlecht berücksichtigte, wurde immer weiter ausdifferenziert und orientiert sich seit 2009 am Krankheitszustand, also der Morbidität, der Versicherten: der Morbi-RSA. Wichtig: Damit einher geht auch ein neues Finanzierungsverfahren, reiche Krankenkassen finanzieren nicht mehr bedürftige Wettbewerber, sondern alle werden aus einem Topf bezahlt, bekommen das Geld nach Krankheitslast ihrer Versichertengemeinschaft zugeteilt. Es gibt also keine Nehmer- und Geberkassen mehr. Die Geldquelle heißt Gesundheitsfonds und dieser steht in Bonn beim Bundesversicherungsamt.

Wie funktioniert der Morbi-RSA?

Die Mittel des Gesundheitsfonds – rund 200 Milliarden Euro jährlich – sollen so an die Krankenkassen verteilt werden, dass sie möglichst zielgenau dort ankommen, wo sie zur Versorgung der Versicherten benötigt werden. Zunächst erhält jede Krankenkasse für jeden Versicherten eine Grundpauschale in Höhe der durchschnittlichen Pro-Kopf-Ausgaben in der GKV. Diese Grundpauschale wird durch ein System von Zu- und Abschlägen angepasst. Neben den Merkmalen Alter, Geschlecht und Bezug einer Erwerbsminderungsrente gibt es Zuschläge für 80 ausgewählte Krankheiten. Sie sollen die zusätzlichen Ausgaben ausgleichen, die im Durchschnitt von dieser Krankheit verursacht werden. Grundlage dafür, ob die Kasse einen Morbiditätszuschlag erhält, sind die von Vertragsärzten erstellten Diagnosen, verschlüsselt nach dem ICD-10-Code.

Gesetzgeber nimmt weitere Anpassungen vor

Zwar hat der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesversicherungsamt 2011 festgestellt, dass der Morbi-RSA zielgenauer wirkt als der Alt-RSA und die durchschnitt-lichen Leistungsausgaben der Krankenkassen deutlich besser deckt.
Er hat aber auch Handlungsbedarf zur Weiterentwicklung des Morbi-RSA gesehen: bei den Zuweisungen für Krankengeld, den Zuweisungen für Auslandsversicherte und bei der Berücksichtigung der Ausgaben für Ver-sicherte, die im Ausgleichsjahr verstorben sind. Dem hat der Gesetzgeber 2014 mit dem GKV-Finanzstruktur- und Qualitätsweiterentwicklungsgesetz (GKV-FQWG) Rechnung getragen. Bei der Berechnung der Zuweisungen für Krankengeld und Auslandsversicherte hat er Ist-Kosten-Elemente als Übergangslösung eingeführt. Darüber hinaus werden im Einklang mit der Rechtsprechung die Ausgaben für Versicherte, die im Ausgleichsjahr verstorben sind, seit dem Jahresausgleich 2013 in gleicher Weise bei der Ermittlung der standardisierten Zuweisungen zur Deckung der Leistungsausgaben berücksichtigt wie die Ausgaben von Versicherten, die aus anderen Gründen kein vollständiges Jahr in der Krankenkasse versichert sind.
Seit Januar 2015 gibt es außerdem einen zusätzlichen Einkommensausgleich, der die Erhebung der einkommensbezogenen, kassenindividuellen Zusatzbeiträge flankiert.

Die Diskussion um den Morbi-RSA spitzt sich zu

Rosinenpickerei, die: laut Duden egoistisches Bemühen, sich von etwas Bestimmtem nur die attraktivsten Teile zu sichern, um die eher unattraktiven anderen zu überlasssen. © pag, Fiolka

In den letzten Monaten mehren sich kritische Stimmen, die weitere Reformen fordern – wenig überraschend melden sich jene Kassen zu Wort, die sich durch die aktuelle Ausgestaltung des Morbi-RSA benachteiligt sehen. Sie bemängeln Wettbewerbsverzerrungen, die dazu führten, dass ihre Kosten nicht gedeckt seien und sie einen höheren Zusatzbeitrag von ihren Mitgliedern erheben müssten. Um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen, haben sich zwölf Krankenkassen aus den Verbänden der Innungs-, Ersatz- und Betriebskrankenkassen 2016 zu einer „RSA-Allianz“ zusammengeschlossen. Zu ihnen gehören unter anderem Barmer, BIG direkt und Schwenninger Krankenkasse.

 

 

 

 

Die Kritiker des gegenwärtigen Ausgleichsystems fordern insbesondere:

  • Streichung der Erwerbsminderungsrente als Surrogatparameter für eine Erkrankung
  • Berücksichtigung unterschiedlicher regionalen Kosten bei der gesundheitlichen Versorgung
  • Hinterfragung der 80 ausgewählten Krankheiten, weg von einer Prävalenzgewichtung hin zu einer Kostenbetrachtung
  • Schaffung eines Hochrisikopools für extrem teure Krankheitsfälle
  • Berücksichtigung von Sprunginnovationen im Arzneimittelbereich
  • Berücksichtigung des Grundlohns bei der Krankengeldzuweisung
  • Abbau der Über- und Unterdeckungen bei Auslandsversicherten
  • Abkehr von der pauschalen Erstattung von Präventionsausgaben und Schaffung von Anreizen für die Kassen, in Prävention zu investieren
  • Gleiche Aufsicht durch Bundes- und Landesbehörde
  • Beendigung von „Schummeleien“ bei der Kodierung von Krankheiten

Deutlich zufriedener mit dem gegenwärtigen System sind die AOKen. Sie fordern eine grundlegende Gesamt-evaluation des Systems und machen darauf aufmerksam, dass auch die Wirtschaftlichkeit der Kassen eine Rolle spiele: Bei Rabattverträgen mit Pharmaherstellern agierten sie beispielsweise wesentlich erfolgreicher als andere Kassenarten.

Wie geht es weiter?

Das Bundesgesundheitsministerium hat im Dezember 2016 den Wissenschaftlichen Beirat beim Bundesversicherungsamt beauftragt, bis zum 30. September 2017 ein Sondergutachten zum Morbi-RSA zu erstellen. Darin sollen die Experten den bisherigen Mechanismus überprüfen sowie die Folgen relevanter Reformvorschläge abschätzen – eine Entscheidungsgrundlage für eine neue Regierungskoalition von höchster Instanz.

 

WAS JOURNALISTEN VOM RSA-STREIT HALTEN
Im „Presse-Club Gerechte Gesundheit“ debattieren Fachjournalisten über den Morbi-RSA. Auszüge dieser Diskussion lesen Sie in „Den Lobby-Nebel beiseite blasen“.