Im Fokus

„Information ist in der modernen Medizin alles“

Akteure diskutieren Anforderungen an ein Arztinformationssystem

Berlin (pag) – Innovationen sollen beim Patienten ankommen – und zwar so gezielt, dass das System finanziell nicht überfordert wird. Mit diesen Worten beschreibt der Staatssekretär im Bundesgesundheitsministerium, Lutz Stroppe, die Intention des neu zu schaffenden Arztinformationssystems (AIS) kürzlich auf einer Veranstaltung von Boehringer Ingelheim.

Zulassung, Fachinformation, Studien, Nutzenbewertung, Leitlinien, Leitsubstanzen, Regress, Adhärenz, Compliance, …. – Welche Informationen sind für die Verordnung des Arztes relevant? © JEGAS_RA – depositphotos.com

 

Man wolle die Therapieentscheidungen der Ärzte unter-stützen und „letztlich zur Therapiefreiheit beitragen“, meint der Ministeriumsvertreter. Er sagt auch, was ausdrücklich nicht gewünscht ist: eine Steuerung aus Kostengesichtspunkten. Allerdings, fügt Stroppe hinzu: „Aber ein Arzt muss auch über Wirtschaftlichkeit und Preise Bescheid wissen.“

Beschlusstexte für Insider

Das AIS soll „letztlich zur Therapiefreiheit beitragen“, sagt Staatssekretär Lutz Stroppe. © pag, Fiolka

Stroppe macht deutlich, dass insbesondere Arzneimittel, bei denen kein Zusatznutzen festgestellt wurde, in dem AIS eine große Rolle spielen sollten. Schließlich könnten diese eine wichtige Therapiealternative darstellen. In diesem Fall müsse der Arzt in der Lage sein, sie ohne drohenden Regress zu verschreiben – auch wenn der Preis über dem der Vergleichstherapie liege.
Thomas Müller, Abteilungsleiter Arzneimittel beim Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA), kündigt ebenfalls an, dass sich der Bundesausschuss intensiver damit befassen werde, was genau der Beschluss „kein Zusatznutzen“ bedeute. Das betreffe insbesondere die Frage, ob das Mittel eine relevante Therapieoption darstelle. Bisher werde über die Frage zwar in den Anhörungen intensiv diskutiert, allerdings werde dies in den Beschlüssen bzw. tragenden Gründen noch nicht regelhaft abgebildet. Müller räumt in seinem Vortrag außerdem ein, dass die AMNOG-Beschlüsse weitgehend für Insider geschrieben seien und kaum Einfluss in der Versorgung hätten. Dabei sei der Bedarf an rationalen Informationen groß – „Information ist in der modernen Medizin alles“. Um aus dem Inner Circle heraus zu kommen, will der G-BA neue Formate entwickeln und sich dabei sogar von Medienwissenschaftlern beraten lassen.

Nicht erfüllbare Sehnsüchte des Mischpreises

Auf der Veranstaltung wird deutlich, dass die verschiedenen Akteure zwar das AIS grundsätzlich begrüßen, aber sobald es konkreter werden soll, wird es kompliziert. „Es kommt darauf an, welche Botschaft damit vermittelt werden soll“, sagt etwa Dr. Markus Frick vom Verband forschender Pharmaunternehmen (vfa). Besonders spannend ist dabei der Aspekt der Wirtschaftlichkeit, was durch die jüngste Entscheidung des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg, den Mischpreis für rechtswidrig zu erklären, noch an Dynamik gewonnen hat. Ausführlich Stellung dazu nimmt G-BA-Vertreter Thomas Müller in seinem Vortrag. „Aus meiner Sicht hat das LSG nichts anderes festgestellt als was ohnehin in der GKV gilt, nämlich dass die einzelne Verordnung wirtschaftlich sein muss“, sagt er. Das könne auch ein Mischpreis nicht außer Kraft setzen. Einen Erstattungsbetrag zu finden, der in der gesamten Breite Wirtschaftlichkeit herstelle, so dass der Arzt sich nicht um wirtschaftliche Alternativen kümmern muss, sei eine „nicht zu erfüllende Sehnsucht“.

Ärzte nicht aus der Verantwortung für Wirtschaftlichkeit entlassen

Explizit warnt Müller die Vertreter der Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen), die Ärzte aus dieser Verantwortung zu entlassen. Ansonsten gebe es irgendwann eine Positivliste. Das „Erfolgsrezept der deutschen Selbstverwaltung“ sei eben, dass Ärzte – „und auch Versicherte“ – in die Wirtschaftlichkeit mit eingebunden seien. Jeder Arzt entscheide mit jeder Rezeptverordnung über die Wirtschaftlichkeit und trage dazu bei, dass das System wirtschaftlich ist – „das ist letztlich Selbstverwaltung“.
Die zu erwartende Gegenposition vertritt Dr. Wolfgang-Axel Dryden, erster Vorsitzender der KV West-falen-Lippe. Er argumentiert: „Der G-BA-Beschluss gibt mir nur Informationen über die Zweckmäßigkeit einer Therapie.“ Die Wirtschaftlichkeit werde dagegen bei der Verhandlung des Erstattungsbetrags zwischen pharmazeutischem Unternehmer und GKV-Spitzenverband hergestellt. „Der Arzt haftet für die Qualität seiner Behandlung – und nicht für die Preise“, argumentiert Dryden.

Abgekoppelt von der innovativen Versorgung

Vfa-Geschäftsführer für Markt und Erstattung, Dr. Markus Frick, hebt hervor, dass insbesondere Medikamente für chronisch kranke Patienten sehr häufig keine Zusatznutzen zeigen könnten. „Übersetzt bedeutet, ‚Zusatznutzen nicht nachgewiesen’ – unwirtschaftlich. Und das heißt, dass ich diese Patienten perspektivisch von der innovativen Versorgung abkoppele.“ Nach seiner Einschätzung verändert die LSG-Entscheidung das AMNOG in seinen Grundfesten – „das ist nichts, das man abwarten kann, bis es in drei Jahren vom Bundessozialgericht überprüft wird“.
Diesem „Katastrophen-Eindruck“ widerspricht Dr. Sabine Richard, Geschäftsführerin Versorgung beim AOK Bundesverband. Sie sieht in der LSG-Entscheidung eine Chance und sagt: „Die Abkehr vom Mischpreis kann auch dem Arzt helfen.“ Die Kassenvertreterin lastet es auch dieser Konstruktion an, dass die mit viel Aufwand erzeugten Ergebnisse des AMNOG beim Arzt nicht ankommen, denn schließlich sei es bislang aufgrund des Mischpreises egal, ob das neue Medikament Patientengruppen mit oder ohne Zusatznutzen verordnet werde.

Arzt- und kein Arzneimittelinformationssystem

Insgesamt überlagert die Diskussion zur Wirtschaftlichkeit auf der Veranstaltung weitgehend die Debatte zum AIS als solches. Dennoch formulieren die Ärztevertreter einige konkrete Voraussetzungen an das System. Dryden nennt: gut in den Workflow einbettbar, leicht und intuitiv zu bedienen, es dürfe nicht vom Patienten ablenken. „Der Aufwand ist so gering wie irgend möglich und keine zusätzliche Bürokratie“, steht außerdem auf der Wunschliste des Westfalen. Prof. Bernhard Wörmann, medizinischer Leiter der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie (DGHO), unterstreicht vor allem, dass das AIS in erster Linie ein Arzt- und kein Arzneimittelinformationssystem zu sein habe, sprich der komplexe Entscheidungsprozess des Behandlers solle abgebildet werden, inklusive aller Therapieoptionen und Diagnostik.
Indes betont der Bundestagsabgeordnete Michael Hennrich, ähnlich wie eingangs Stroppe, dass man mit dem System keine Verordnungssteuerung schaffen wolle, sondern die bestehenden Beschlüsse des G-BA abbilden. Insgesamt hofft er auf ein „dynamisches Modell“, woran allerdings die Aussagen Müllers ein wenig zweifeln lassen. Es sei ein dickes Brett, das zu bohren sei, Geduld und Kooperationswillen seien erforderlich, insbesondere wenn in der ersten Zeit nicht alles perfekt laufe.

 

LSG: MISCHPREIS RECHTSWIDRIG

Das Landessozialgericht (LSG) Berlin-Brandenburg hat die Mischpreisbildung für Arzneimittel für rechtswidrig erklärt – und zwar für jene Mittel, bei denen der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) in seinem Nutzenbewertungsbeschluss zugleich Patientengruppen mit und ohne Zusatznutzen bildet. So lautet im Kern der Beschluss des LSG im Einstweiligen Rechtsschutz (ER)-Verfahren zu Albiglutid vom 1. März 2017 (Az. L 9 KR 437/16 KL ER). Damit hat das Gericht eine Entscheidung der Schiedsstelle vom 6. April 2016 außer Vollzug gesetzt. Der von der Schiedsstelle festgesetzte Betrag lag nur knapp unter den Preisvorstellungen des Herstellers. Dagegen hat der GKV-Spitzenverband geklagt (L 9 KR 213/16 KL). Das Verfahren ist noch offen.

 

 

Ungewöhnlicher Veranstaltungsort: Im Tieranatomischen Theater der Charité fand die Veranstaltung von Boehringer Ingelheim zum Thema „AIS-Arztinformationssystem – Anforderungen für ein Versorgungsmanagement“ statt. © pag, Fiolka