Im Fokus

„Das ist doch kein Leben!“

Mangel und Rationierung bei Palliative Care in der Geriatrie

Berlin (pag) – Eine ungleiche Verteilung von Kompetenzen und Versorgung bei Palliative Care – zugunsten von Jüngeren, Krebserkrankten, Schmerzpatienten und sozio-ökonomisch Höhergestellten – kritisiert Prof. Ralf Jox, Universität München und Lausanne. „Ältere Menschen, Menschen mit chronischen, neurologischen, psychiatrischen Erkrankungen haben weniger Zugang“, sagt der Mediziner auf einer Veranstaltung in Berlin.

„Das ist doch kein Leben! Warum Palliative Geriatrie nicht nur im Sterben hilft“ lautet der Titel der Tagung, die das Kompetenzzentrum Palliative Geriatrie des Unionhilfswerkes im Oktober veranstaltet. Dort hebt Jox hervor, dass die palliativen und geriatrischen Defizite insbesondere in der ambulanten Versorgung – je nach Region – nach wie vor deutlich seien. Als Herausforderungen nennt der Experte: Alte Patienten sind oft multimorbid und leiden an komplexen Symptomen. Die Häufigkeit der Symptome ist Studien zufolge am Lebensende bei Menschen mit chronischen Lungen- und Herzerkrankungen oder mit Demenz nicht unbedingt geringer als bei Krebspatienten. Komplexe psycho-soziale Situationen treten auch im Alter auf, häufig wegen Vereinsamung. Und: In der palliativen Geriatrie sind Menschen öfter nicht mehr urteils- und einwilligungsfähig. Jox fordert daher: „Es braucht diese spezialisierte Palliative Care auch bei Alten.“ Außerdem macht er sich für das Konzept der gesundheitlichen Versorgungsplanung stark (Advanced Care Planing). Dabei geht es darum, die Präferenzen und Wünsche der Betroffenen – wie und wo sie sterben möchten, wie sie davor leben – in der Versorgungswirklichkeit umzusetzen. Vorgesehen ist dafür zu Beginn ein professionell unterstützter Gesprächsprozess mit Patienten und Angehörigen. Darauf basierend werden Dokumente der Vorausplanung wie Patientenverfügungen erstellt, „und zwar so formuliert, dass sie komplett tragfähig sind“, hebt Jox hervor. Als dritte Säule sind für die lokale und regionale Umsetzung die Schulung derjenigen vorgesehen, „die später Entscheidungen zu treffen haben“, wie es Jox ausdrückt. Gemeint sind damit der Rettungsdienst sowie Ärzte im Krankenhaus und im Pflegeheim. Sie sollen unter anderem lernen, wie sie solche Dokumente finden und damit umgehen.

 

© maurus – depositphotos.com

PALLIATIVE GERIATRIE – WAS IST DAS?
Palliative Geriatrie beschreibt einen interdiszi-plinär angelegten Betreuungsansatz für hochbetagte, von Demenz betroffene und/oder sterbende Menschen, der sowohl kurative als auch palliative Maßnahmen vereint. 2004 starteten das „Kompetenzzentrum Palliative Geriatrie“, ein Projekt der Unionhilfswerk Senioren-Einrichtungen gemein-nützige GmbH. Die Fachgesellschaft Palliative Geriatrie (FGPG) ist eine Organisation von Altenpflegern, Wissenschaftlern, Ärzten, Hospizen und Palliative Care Fachkräften sowie Ehrenamtlichen. Sie wurde 2015 gegründet.

Alltag und Genießen für Sterbende

Auf der Tagung werden auch Unterschiede beim Umgang mit dem Sterben zwischen Deutschland, Österreich und der Schweiz erörtert. Dr. Roland Kunz von der universitären Klinik für Akutgeriatrie im Stadtspital Waid, beobachtet etwa mit Sorge, dass sich in der Schweiz die Debatte, welches Leben lebenswert sei und welches nicht, stark auf Leistung fokussiere. „Wir müssen uns auf das individuelle Ziel unserer Patienten konzentrieren“, verlangt er. Prof. Katherina Heimerl aus Wien berichtet von einer parlamentarischen Enquete-Kommission, die sich 2015 mit dem Thema „Leben und Sterben in Würde“ befasst hat. „Im Diskurs fehlte die Sicht der Betroffenen“, kritisiert sie. Aus einer Befragung von Menschen, die mit dem Sterben unmittelbar konfrontiert sind, hebt sie drei Botschaften hervor: Erstens gebe es auch für sterbende Menschen und die sie begleitenden Personen einen Alltag. Zweitens gehe es auch am Lebensende darum, das Leben zu genießen. Und drittens seien für die Betroffenen nicht so sehr die Sterbeorte wie Hospiz oder Pflegeheim von Bedeutung, sondern die Sterbewelten. Damit gemeint sei nicht der organisatorische, sondern der soziale Zusammenhang.

Sterbehilfe unter Bedingungen des Mangels

Aus deutscher Perspektive stellt Dirk Müller, Leiter Hospiz und palliative Geriatrie im Unionhilfswerk, das Thema Sterbehilfe in den Mittelpunkt. Aus seiner Erfahrung fragten die meisten Menschen im Hospiz nicht nach Sterbehilfe. Anders sehe es oft in Pflegeheimen und Krankenhäusern aus, wo es viele Menschen aufgrund der dortigen Bedingungen als würdevoller empfänden, wenn ein Sterben ermöglicht werde. „Wir stehen vor der großen Misere der Rahmenbedingungen“, sagt der Altenpfleger. Seine These lautet: Schlechte Rahmenbedingungen, schlecht behandeltes Personal, nicht kompetente Mitarbeiter oder Mitarbeiter, die ihre Kompetenzen nicht einbringen können, führten dazu, dass Sterbehilfe praktiziert werde. Der Gesetzgeber solle daher überlegen, „wie wir zu Bedingungen kommen, die ein gutes Leben und Sterben möglich machen“. Unter Bedingungen des Mangels über Sterbehilfe zu diskutieren hält Müller für schwierig – „und unter denen arbeiten wir hier“.

 

RATIONIERUNG BEI DEN BESONDERS VERLETZLICHEN
Obwohl die Alten in unserer Gesellschaft ein wichtiger Faktor seien, gibt es Jox zufolge noch immer eine „Abwertung des Alten“. Ältere Menschen sind dem Mediziner zufolge aufgrund ihrer altersbedingten funktionellen Einschränkungen, der oft chronischen Multimorbidität, zunehmend löchrig werdenden sozialen Netzen und der Inkongruenz mit gesellschaftlichen Imperativen wie Mobilität, Technologie und Leistung eine vulnerable Bevölkerungsgruppe. Damit sieht Jox folgende Risiken im Gesundheitswesen verbunden: mangelnde Aufklärung, Unterbehandlung und Vernachlässigung, implizite und explizite Altersrationierung, Überbehandlung sowie ungerechtfertigte Zwangsbehandlung.