Im Fokus

„Teilen ist Heilen“

Ethikrat bezieht Stellung zu Big Data

Berlin (pag) – „Man kann Big Data nicht aufhalten, aber sehr wohl gestalten“, sagt Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU). Bei der Präsentation der lang erwarteten Stellungnahme des Deutschen Ethikrats zu Big Data Ende vergangenen Jahres erläutern der Vorsitzende des Gremiums, Prof. Peter Dabrock, und Ratsmitglied Prof. Steffen Augsberg, wie dies gelingen kann.

©pixabay, montage: pag

Es handele sich bei Big Data um „eine gesellschaftliche und technologische Entwicklung, die das Zeug dazu hat, die Medizin zu revolutionieren“, ist sich der Minister sicher. Gröhe lobt den Ethikrat für seine Stellungnahme, in der das Gremium nicht mit Ängsten spiele, sondern konkrete Handlungsempfehlungen formuliere. Dennoch: „Datensouveränität durchzudeklinieren, wird eine große Aufgabe.“

Klassische Datenschutzmechanismen greifen nicht mehr

Im Mittelpunkt des Papiers stehen die klassischen Daten-schutzmechanismen, die sich laut Dabrock „als nicht mehr ausreichend oder sogar als dysfunktional“ erwiesen haben. Hier müsse man neue Wege gehen, denn es sei „gegenüber den vielen Menschen, denen signifikante Gesundheitsverbesserungen winken, unverantwortlich, wenn man diese Chancen gesellschaftlich wegen der alten Datenschutzprinzipien verbieten wollte“. Für den Einsatz von Big Data im Gesundheitswesen gelte: „Teilen ist Heilen.“ Damit spielt der Theologe auf ein Zitat aus dem dystopischen Roman „The Circle“ von Dave Eggers an. Vollständig lautet es: „Teilen ist Heilen. Privatheit ist Diebstahl und Geheimnisse sind Lügen.“ Dieses Mantra sei literarisch so angelegt, dass man es „in Gänze wie in seinen Teilen rundweg ablehnen soll“. Doch so einfach ist es Dabrock zufolge nicht – zumindest nicht, was das Themenfeld Big Data und Gesundheit betrifft. Denn: „Wer wollte schon dagegen sein, wenn sich mithilfe dieser Big-Data-getriebenen Entwicklung tatsächlich Lebenszeit verlängern und Lebensqualität verbessern ließe?“

Zwischen informeller Selbstbestimmung und Datenschutz

„Das ganze ist eine hochambivalente Situation“, sagt Prof. Peter Dabrock (links) bei der Übergabe des Gutachtens an Bundesforschungsministerin Prof. Johanna Wanka und Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe. Ebenfalls im Bild: Prof. Steffen Augsberg (rechts) © Dt. Ethikrat, Reiner Zensen

Bisher sei man ganz selbstverständlich davon ausgegangen, dass in der Medizin zum einen die informelle Selbstbestimmung, zum anderen die klassischen Datenschutzprinzipien wie Zweckbindung und Datensparsamkeit unbedingt zu gelten haben. Gleichzeitig brauche es aber für aussagekräftige Folgerungen sehr große Datenmengen. „Das Ganze ist eine hochambivalente Situation“, fasst Dabrock zusammen. Der Ethikrat greift daher einen Begriff auf, der seit wenigen Jahren in der Diskussion, aber bisher diffus gefüllt ist: Datensouveränität. Der Terminus werde „in den aktuellen Debatten nicht nur mit unklaren, sondern auch mit diametral entgegengesetzten Bedeutungsinhalten verwendet“, ergänzt Augsberg. „Teilweise werden damit lediglich die tradierten, letztlich kaum veränderten Regulierungsansätze des Datenschutzes unter neuem Namen fortgeschrieben.“ Der Ethikrat definiere Datensouveränität dagegen als „den Chancen und Risiken von Big Data angemessene verantwortliche informelle Freiheitsgestaltung“ und verweise damit auf das bekannte Konzept der informellen Selbstbestimmung, entwickele dieses jedoch weiter, so Augsberg. Es gehe dabei insbesondere um die Möglichkeit, je nach individueller Präferenz effektiv in den Strom persönlich relevanter Daten eingreifen zu können. Diese Freiheitsgestaltung soll sich nach den Vorstellungen des Ethikrats auch „an den gesellschaftlichen Anforderungen von Solidarität und Gerechtigkeit“ orientieren.

Verantwortung trägt sowohl der Einzelne als auch der Staat

Das Datenschutzrecht befinde sich derzeit in einem nahezu vorbildlosen Umbruchprozess, so Augsberg weiter. Als Beispiele nennt der Rechtswissenschaftler die EU-Datenschutzgrundverordnung, das Bundesdatenschutzgesetz und die noch im Gesetzgebungsverfahren befindliche europäische E-Privacy-Verordnung. Ein ethisch orientierter Umgang mit Big Data müsse sicherstellen, dass „für den Einzelnen zumindest die realistische Möglichkeit besteht, die eigene Identität zu bewahren und zu gestalten sowie die eigenen Handlungen vor sich und anderen zu verantworten“. Verantwortung trage dabei nicht nur das Individuum: „Sie trifft auch Institutionen und insbesondere den Staat.“ Angesichts der Defizite des traditionellen Datenschutzrechts bedürfe es hierfür eines neuen, die Komplexität und Entwicklungsdynamik von Big Data stärker spiegelnden Gestaltungs- und Regelungskonzepts, folgert Augsberg.

Politik soll „Datenspende“ ermöglichen

Die Stellungnahme enthält daher neben einer Beschreibung der Entwicklung hin zu Big Data sowie einer kritischen Analyse der Rechtslage und der ethischen Situation auch eine Reihe von Handlungsempfehlungen, die sich vor allem an die Politik richten. Eine davon lautet, die rechtliche Möglichkeit für den Einzelnen zu schaffen, die umfassende Nutzung seiner Daten für die medizinische Forschung ohne Zweckbindung zu erlauben. Dieses vom Ethikrat als „Datenspende“ bezeichnete Konzept setzt eine umfassende Aufklärung über mögliche Konsequenzen voraus – auch mit Blick auf die Rechte anderer, etwa mitbetroffener Familienmitglieder.
Darüber hinaus regt das Gremium an, die digitale Bildung zu fördern und bereits in der Schule bei den Kindern „ein Bewusstsein für die rechtlichen, sozialen und ethischen Implikationen zu schaffen“. Die Vermittlung solcher Nutzerkompetenz sollte daher zukünftig Teil der Lehreraus- und -fortbildung werden, heißt es. Der Ethikrat verstehe die Liste der Empfehlungen nicht als abschließend, betont Augsberg. „Ihre möglichst umfassende, zeitnahe und gegebenenfalls öffentlich zu finanzierende Umsetzung wäre aber ein wichtiger Schritt, um sicherzustellen, dass die mit Big Data unzweifelhaft verbundenen Chancen genutzt werden können, zugleich aber wesentliche ethische wie grundrechtlich fundierte Wertungen einschließlich der informellen Selbstbestimmung weiterhin die ihnen gebührende Achtung erfahren.“

 

Die Vorgeschichte
Mit Big Data und Gesundheit hat sich der Ethikrat bereits auf seiner Jahrestagung im Mai 2015 auseinandergesetzt. Die angekündigte Stellungnahme ließ aber auf sich warten. Dabrock erklärt die Verzögerung mit einer inhaltlichen Neuausrichtung – ursprünglich sollte es vor allem um Wearables gehen. Der Rat sieht diese jetzt als „ein Oberflächenphänomen einer sehr viel tiefer liegenden Fragestellung“. Auch hat inzwischen der turnusgemäße Wechsel von Ratsmitgliedern stattgefunden: Lediglich zwölf der 26 aktuellen Ratsmitglieder waren 2015 im Amt. Seinerzeit diskutierten die Experten recht kontrovers über das Thema. Dabrock befürchtete etwa, dass ohne eine möglichst internationale Regulierung die quantitative Verdichtung von Big-Data-getriebenen Prognosen zu einem qualitativen Verlust von Freiheit führen könne, der jedoch als Steigerung der Selbstbestimmung verkauft werde. Dagegen betonte Prof. Claudia Wiesemann, dass es auch gewichtige moralische Gründe für Big Data gebe, vor allem bei der Erforschung der Orphan Diseases – seltene Erkrankungen, die eine kritische Masse an Informationen und Daten benötigten. Diese Patientengruppen würden durch gute Big-Data-Forschung „entdiskriminiert“. Die aktuelle Stellungnahme enthält ein Sondervotum der Medizinerin Dr. Christiane Fischer. Sie wendet sich gegen eine zentrale Speicherung von Patientendaten, statt freiwilliger Selbstkontrollen will sie gesetzliche Regelungen.

 

Weiterführender Link:

Die Stellungnahme ist online verfügbar unter: www.ethikrat.org/publikationen/stellungnahmen/big-data-und-gesundheit-1