Im Gespräch

Was ist der Gesellschaft der Zusatznutzen wert?

Prof. Jürgen Wasem vermisst Leitplanken für Zahlungsbereitschaft

Berlin (pag) – Allenfalls ein gelegentliches Fine-Tuning steht beim AMNOG-Verfahren an. Diese Lesart, bevorzugt von Politik und maßgeblichen Akteuren des Gesundheitswesens, klammert unangenehme Fragen aus – etwa nach der gesellschaftlichen Zahlungsbereitschaft und möglichen Legitimationsdefiziten. Im Interview spricht der Vorsitzende der AMNOG-Schiedsstelle, Prof. Jürgen Wasem, heikle Punkte des Verfahrens an.

Prof. Jürgen Wasem © pag, Fiolka

ZUR PERSON
Prof. Jürgen Wasem ist Vorsitzender der sogenannten „AMNOG-Schiedsstelle“. Diese wird angerufen, wenn sich Hersteller und GKV-Spitzenverband nach der frühen Nutzenbewertung nicht auf einen Erstattungsbetrag für das neue Arzneimittel einigen können. Der Gesundheitsökonom von der Universität Duisberg-Essen ist darüber hinaus ein gefragter Mann im Gesundheitswesen: Er gehört unter anderem dem wissenschaftlichen Beirat zur Weiterentwicklung des Risikostrukturausgleichs an und ist unparteiischer Vorsitzender des Erweiterten Bewertungsausschusses für die vertragsärztliche Versorgung in der GKV.

 

Ob sich ein Pharmaunternehmen dafür entscheidet, sein Medikament vom deutschen Markt zu nehmen, hängt maßgeblich vom Spruch der Schiedsstelle ab. Damit entscheiden Sie als Vorsitzender indirekt, ob ein Arzneimittel für Patienten auf dem hiesigen Markt verfügbar ist. Sind Sie dafür ausreichend legitimiert?

Wasem: Die Frage ist berechtigt, weil die Legitimation eine sehr indirekte ist. Man kann argumentieren, dass der Gesetzgeber, der die Schiedsstelle implementiert hat, demokratisch legitimiert ist – und insofern ist es auch die Schiedsstelle. Vergleichbar ist dies mit der Frage nach der ausreichenden demokratischen Legitimierung des Gemeinsamen Bundesausschusses. Es gibt Konstellationen, bei denen ich mich wirklich frage, ob ich ausreichend legitimiert bin, eine solche Entscheidung zu treffen. Nämlich wenn ich nicht der Forderung des Herstellers hinreichend nachgebe und das Arzneimittel deshalb vom Markt geht. Ich wünsche mir stärkere Leitplanken, was die Zahlungsbereitschaft der Gesellschaft für Zusatznutzen angeht.

Also eine gesellschaftliche Debatte?

Wasem: Richtig, wir brauchen eine gesellschaftliche geführte Debatte über die Zahlungsbereitschaft.

Die Politik dürfte eine solche Debatte eher scheuen, oder?

Wasem: Die Politik will sie nicht führen, weil damit implizit die Rationierungsdebatte angesprochen ist. Sie vertritt die Position, dass der deutsche Versicherte alles medizinisch Notwendige erhält. Eine implizite Rationierungsdebatte, bei der die gesellschaftliche Zahlungsbereitschaft ausgelotet würde, wäre ein schwarzer Fleck auf dieser weißen Weste.

Allerdings wäre eine solche Debatte vor dem Hintergrund des komplexen AMNOG-Verfahrens eine Herausforderung …

Wasem: Eine Diskussion über die Zahlungsbereitschaft für ein eindimensionales Konstrukt wie das QALY als Endpunkt ist einfacher zu führen. Da haben es die Engländer mit ihrem System besser. In Deutschland müssen wir mit den unterschiedlichen Kategorien von Zusatznutzen umgehen, hinter denen sich wiederum ganz unterschiedliche Dinge verbergen. Das kann Mortalität oder Lebensqualität sein, mal sind es geringere Nebenwirkungen. Die Zahlungsbereitschaft zu einem Konstrukt wie beträchtlichen, erheblichen oder geringen Zusatznutzen zu debattieren, ist eine echte Herausforderung. Aber ich fände es trotzdem gut, wenn wir uns trauten, diese Diskussion zu führen.

Aus Sicht der Politik hat sich diese Diskussion mit dem AMNOG erledigt.

Der Nikolausbeschluss
Im sogenannten Nikolausbeschluss vom 6. Dezember 2005 entschied das Bundesverfassungsgericht, dass falls bei einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich verlaufenden Erkrankung keine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Behandlung zur Verfügung steht, die gesetzliche Krankenversicherung eine vom Patienten gewählte und von einem Arzt angewandte neue oder alternative Behandlungsmethode bezahlen muss. Dies gilt unter der Voraussetzung, dass dabei „eine nicht ganz fernliegende Aussicht auf Heilung oder eine spürbare positive Auswirkung auf den Krankheitsverlauf besteht“.

Wasem: Die Einschätzung der Politik lautet, dass man beim AMNOG allenfalls ein Fine-Tuning auf der technischen Ebene durchführen und diese Grundsatzfrage nicht stellen muss. Es sind dann die Vertragspartner und im Falle der Nicht-Einigung auf einen Erstattungsbetrag die indirekt demokratisch legitimierte Schiedsstelle, die die Allokations- und letztlich auch Rationierungsentscheidungen treffen müssen. Wobei man sehen muss: Wenn ein Arzneimittel die Kriterien des Nikolaus-Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts erfüllt, müssen die Krankenkassen den Versicherten es auch dann zur Verfügung stellen, wenn der Hersteller es vom deutschen Markt genommen hat – dann müssen die Kassen es nämlich importieren, wenn der Arzt es für die Versorgung seines Patienten als notwendig erachtet.

Von der unbeantworteten Grundsatzfrage nach der gesellschaftlichen Zahlungsbereitschaft abgesehen: Wo stößt das AMNOG an Grenzen, wo ein reines Fine-Tuning nicht ausreicht?

Wasem: Ich sehe zwei grundsätzliche Probleme. Zum einen können AMNOG-Beschlüsse und Vereinbarungen durch regionale Instanzen konterkariert und limitiert werden. Wenn die regionale Quote nur zwei Prozent beträgt, dann kann der Zusatznutzen beträchtlich und der Preis vernünftig sein, trotzdem wird das Arzneimittel kein Leben entfalten.

Und das zweite Problem?

Wasem: … besteht nach wie vor darin, dass der GKV-Spitzenverband in der Nutzenbewertung stark involviert ist und anschließend die Preisverhandlungen führt. Das eigentliche Konzept sieht ja vor, dass der G-BA eine neutrale Nutzenbewertung durchführt und sich dafür eines wissenschaftlichen Instituts bedient, das auch den Anspruch hat, neutral zu sein. Nach dieser neutralen Nutzenbewertung geht es dann in die Preisverhandlungen. Fakt ist aber natürlich, dass der GKV-Spitzenverband im G-BA eine starke Position hat. Mein Eindruck ist, dass er versucht, die G-BA-Entscheidungen so auszugestalten, dass er daran nahtlos in der Schiedsstelle anknüpfen kann.

Also eine fehlende Trennung zwischen Nutzenbewertung und Preisverhandlung?

Wasem: Genau, dieses grundsätzliche Problem lässt sich mit dem Bild von den Spießen veranschaulichen: Es ist unbestritten, dass früher die Hersteller die deutlich längeren Spieße hatten. Oder um Franz Knieps zu zitieren: „Früher saß die Pharmaindustrie im Panzer und wir hatten die Fußtruppen. Jetzt ist es umgekehrt.“ Das trifft es ganz gut.

Seitens des Gemeinsamen Bundesauschusses heißt es, dass es für Therapieneuheiten keine Kosten-, wohl aber eine Evidenzgrenze gebe. Stimmen Sie dem zu?

Wasem: Die Spielräume, die der G-BA bei der Festsetzung der zweckmäßigen Vergleichstherapie und bei der Interpretation der Studien hat, nutzt der GKV-Spitzenverband mit seiner starken Position zumindest gelegentlich, um die Preisverhandlungen zu präformieren. Analysen, die Nutzenbewertungen international vergleichen, zeigen, dass die Ergebnisse nicht einheitlich sind. An manchen Stellen sieht man gut, dass die frühe Nutzenbewertung nicht unangreifbar das einzig denkbare Operationalisierungsverfahren gewählt hat und dass Spielräume genutzt werden. Nach wie vor ist die zweckmäßige Vergleichstherapie ein zentrales Thema.

Inwiefern?

Wasem: In zweierlei Hinsicht: Immer wenn eine ZVT gewählt wird, gegen die ein Hersteller nicht getestet hat, hat er ein massives Problem. Und: Wird kein Zusatznutzen nachgewesen, gilt die billigste ZVT als oberste Preisgrenze. Es gibt viele Konstellationen, bei denen es plausibel ist, dass ein Medikament gar nicht besser als die ZVT, sondern gleich gut sein will. Aber wenn es gegenüber der Vergleichstherapie geplantermaßen keinen Zusatznutzen hat, wird nur der Preis der billigsten ZVT herangezogen.

Das bedeutet?

Wasem: Hinter diese beiden Konstellationen kann man ein Fragezeichen setzen, ob es sich dabei immer um die einzig denkbare Ausgestaltung des G-BA-Beschlusses handelt. Innerhalb der gesetzten Rahmenbedingungen ist es zwar die pure Evidenz, aber sie wird eben vorher geframt. Wenn ich entscheide, was die ZVT ist, kann ich eine State-oft-the-art-Evidenz-Analyse machen, aber bei der Auswahl der ZVT denkt der GKV-Spitzenverband eben schon weiter.

Angesichts des geplanten Arztinformationssystems stellt sich die Frage, wo und bei wem die Deutungshoheit über den pharmazeutisch-medizinischen Fortschritt liegt – beim G-BA, der die AMNOG-Beschlüsse fällt, bei den Fachgesellschaften, die Leitlinien formulieren oder beim einzelnen Verordner?

Prof. Jürgen Wasem im Gespräch mit Antje Hoppe (Chefredakteurin) und Lisa Braun (Herausgeberin, im Foto rechts) © pag, Fiolka

Wasem: Beim einzelnen Arzt kann es immer nur die konkrete Entscheidungssituation mit dem einzelnen Patienten sein. In Deutschland kann er – gut begründet – noch immer alles verordnen. Das würde ich nach wie vor relativ weitgehend sagen. Durch das Wirtschaftlichkeitsgebot hat der Arzt keine begründungsfreie Therapiefreiheit. Ich halte das für vertretbar. Man kann grundsätzlich von einem Arzt verlangen, wenn er teuer verordnet, dass er in der Lage ist, die Therapiewahl vernünftig zu begründen. In den Leitlinien spielen Kosten überwiegend keine Rolle. Das ist ebenfalls vertretbar. Legitim ist aber außerdem, dass man ökonomische Gesichtspunkte auf der übergeordneten Ebene berücksichtigt. Insofern finde ich es richtig, dass es neben den Leitlinien eine Informationsebene gibt, wo Kosten eine Rolle spielen. Insgesamt haben wir aber im Laufe der Zeit eine Schwerpunktverlagerung erlebt.

Was hat sich verlagert?

Wasem: Mein Eindruck ist, dass für den Arzt die Leitlinien inzwischen oft weniger Gewicht haben als der ökonomische Regulierungsrahmen. Damit meine ich nicht nur den G-BA-Beschluss, sondern auch regionale Vereinbarungen.

 

Der Nikolausbeschluss
Im sogenannten Nikolausbeschluss vom 6. Dezember 2005 entschied das Bundesverfassungsgericht, dass falls bei einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich verlaufenden Erkrankung keine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Behandlung zur Verfügung steht, die gesetzliche Krankenversicherung eine vom Patienten gewählte und von einem Arzt angewandte neue oder alternative Behandlungsmethode bezahlen muss. Dies gilt unter der Voraussetzung, dass dabei „eine nicht ganz fernliegende Aussicht auf Heilung oder eine spürbare positive Auswirkung auf den Krankheitsverlauf besteht“.