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Wollen wir das wissen?

Chancen und Risiken der Demenzvorhersage

Berlin (pag) – Was wäre, wenn man sein persönliches Risiko, an Alzheimer zu erkranken, mit einem unkomplizierten Test bestimmen könnte? Der medizinische Fortschritt bei der Demenzvorhersage steht vor der Tür. Aber sind wir, das Versorgungssystem und die Gesellschaft, auf die damit verbundenen Herausforderungen vorbereitet?

„Momentan ist völlig unklar, wie innerhalb des Gesundheitssystems mit einem auf Demenz bezogenen Biomarker-Ergebnis umzugehen wäre“, sagt Prof. Martina Roes. © Photocreo Bednarek, Fotolia.com

Von einem neu entwickelten Bluttest, der acht Jahre vor der klinischen Diagnose auf eine Alzheimer-Erkrankung hinweisen könne, berichten im April Wissenschaftler der Ruhr-Universität Bochum, des Deutschen Krebsforschungszentrums und des Krebsregisters Saarland. Die Forscher hoffen, dass Medikamente, die derzeit in klinischen Studien erprobt werden, das Fortschreiten der Krankheit aufhalten – wenn sie in diesem frühen Stadium angewandt würden. Prof. Klaus Gerwert (lesen Sie dazu das Interview in dieser Ausgabe), rechnet damit, dass der Test in drei bis fünf Jahren auf dem Markt sein wird.
Ein Einzelfall ist diese Meldung nicht. Einen Monat zuvor berichtet die Deutsche Gesellschaft für Neurologie von einem weiteren Blut-Test für Alzheimer. Und: „Alzheimer-Demenz frühzeitig auf der Spur dank automatisiertem MRT“ lautet die Botschaft der Pressekonferenz der Deutschen Gesellschaft für Klinische Neurophysiologie und Funktionelle Bildgebung am 15. März. Wenige Tage zuvor veröffentlicht wiederum die Deutsche Alzheimer Gesellschaft einen Fachtagungsbericht, der mit der Frage „Ist eine frühe Diagnose immer im Sinne der Betroffenen?“ überschrieben ist.

Perspektivwechsel in der Forschung

Die Beispiele illustrieren einen Perspektivwechsel, der offenbar derzeit in der Demenzforschung stattfindet – von der Heilung zur Früherkennung und Prädiktion mit Biomarkern sowie der Verzögerung der Symptomexpression. Eine Heilung für Demenz gibt es nach wie vor nicht. Tests mit Biomarker-Untersuchungen ermöglichen aber in naher Zukunft, bereits weit vor Eintritt der ersten Symptome, eine Wahrscheinlichkeitsaussage an Demenz zu erkranken. Speziell Bluttests sind im Unterschied zu anderen Verfahren relativ günstig, minimalinvasiv und damit für ein breiteres Screening geeignet. Bei Betroffenen und Angehörigen führt das zu Erwartungen, aber auch zu Ängsten. Die Frage, die sich jeder unwillkürlich stellt, lautet: Würde ich einen solchen Test machen?

Dazu hat der AbbVie Healthcare Monitor im März in Kooperation mit Gerechte Gesundheit eine Umfrage durchgeführt. Der repräsentativen Befragung zufolge würde sich jeder Zweite wahrscheinlich für die Testung entscheiden. Befragte ab 60 Jahren würden den Test häufiger als die anderen Gruppen „auf jeden Fall“ durchführen lassen. Jüngere Befragte unter 40 Jahren sehen dadurch besonders häufig Planungsvorteile für das Leben, zum Beispiel bezogen auf Pflege, Wohnsituation oder Beruf. Unter denjenigen, die einen Bluttest ablehnen, dominiert die Angst vor einer hohen psychischen Belastung. Risiken der Diskriminierung werden allerdings verhältnismäßig selten befürchtet – unabhängig davon, ob die Befragten einen Test auf Altersdemenz machen würden oder nicht. Nur 16 Prozent fürchten Ausgrenzung in der Familie.

Individuelle Abwägung und Herausforderung für das System

Das Für und Wider zur prädiktiven Demenzdiagnostik ist aber nicht nur eine individuelle Entscheidung, die es sorgfältig abzuwägen gilt: Planungsvorteile bzw. bewusstes Risikomanagement versus psychische Belastung und potenzielle Diskriminierungsgefahr. Es stellt auch das Gesundheitssystem vor Herausforderungen. „Momentan ist völlig unklar, wie innerhalb des Gesundheitssystems mit einem auf Demenz bezogenen Biomarker-Ergebnis umzugehen wäre“, sagt Prof. Martina Roes. Die Forscherin am Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen verweist etwa auf die Gefahr, dass für Betroffene medizinische Leistungen ausgeschlossen werden. Rechtliche und ethische Aspekte erläutern die Juristin Prof. Susanne Beck und die Medizinethikerin Prof. Silke Schicktanz in einem Aufsatz*. Beispiel Aufklärung: Den Expertinnen zufolge legt die derzeitige Rechtslage den Fokus mit wenigen Ausnahmen auf die körperlichen Aspekte. Die drohenden psychischen Schwierigkeiten oder Diskriminierungspotenziale würden nur erfasst, soweit genetische Biomarker einbezogen würden. Auch auf Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Demenzprädiktion und Gendiagnostik gehen Beck und Schicktanz ein (siehe Infokasten), ebenso wie auf die Bedeutung von Patientenverfügungen und das Recht auf Nichtwissen.

*    „Wer viel weiß, hat viel zu sorgen?“ Zur Prädiktion von Altersdemenz mittels Biomarker: ethische und rechtliche Fragestellungen. Erschienen im Jahrbuch für Recht und Ethik, Band 24 (20186).

 

Demenzprädiktion versus Gendiagnostik

Auf den ersten Blick scheint es, erläutern Beck und Schicktanz, dass Biomarker auf eine späteinsetzende Erkrankung wie Altersdemenz keine neuen Fragen im Vergleich zur genetischen Testung von spät auftretenden neurologischen Krankheiten aufwerfen. Warum wird nur die genetische Diagnostik besonders geregelt, fragen sie. Gerade bei der Demenzprädiktion mache die Art der Diagnostik keinen relevanten Unterschied für die Betroffenen. Mit Blick auf die Ähnlichkeiten spreche viel dafür, die besonderen Voraussetzungen für die Gendiagnostik auf die Untersuchung zur Demenzprädiktion zu übertragen. Auf den zweiten Blick aber erkennen die beiden Wissenschaftlerinnen, dass die Demenzprädiktion ein „neu zu diskutierender Sonderfall“ sei. Das machen sie an sozialen Faktoren fest: Demenz gelte momentan als einer der häufigsten und sozial bedrohlichsten Krankheiten, sie werde kulturell sehr unterschiedlich interpretiert und die biografischen Erfahrungen damit seien recht verbreitet und: Eine ethische und öffentliche Debatte dazu befindet sich noch in den Anfängen.

Das Diskursverfahren

Ziel des Vorhabens „Prä-Diadem“ ist ein ethisch-rechtlicher Diskurs mit Auszubildenden in Gesundheitsberufen, Wissenschaftlern, Angehörigen und Betroffenen über Entscheidungskonflikte, die durch Fortschritte in der Demenz-Diagnostik entstehen. Die Teilnehmenden sollen Kriterien für eine Kommunikations- und Vermittlungsleitlinie erarbeiten, an Falldiskussionen erproben und verfeinern. Die Ergebnisse des Diskurses und die Lehrmaterialien werden veröffentlicht und Lernenden, Lehrenden sowie der interessierten Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt. Beginn des Verfahrens ist eine Konferenz am 22./23. Juni 2018 in Göttingen. Das Verbundprojekt des IEGUS Instituts für europäische Gesundheits- und Sozialwirtschaft, Bochum/Berlin, und des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin, Universitätsmedizin Göttingen, wird von Prof. Dr. Silke Schicktanz und Prof. Scott Stock Gissendanner geleitet.
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Weitere Informationen unter:  www.praediadem.de

Betroffene bleiben anonym

Geht man noch einen Schritt weiter, so zeigt sich, dass sich nicht nur Fachkreise mit den Herausforderungen, die dieser medizinische Fortschritt im Gepäck hat, auseinandersetzen müssen – auch die gesellschaftliche Dimension ist nicht zu unterschätzen. In Deutschland leben gegenwärtig fast 1,6 Millionen Demenzkranke; zwei Drittel von ihnen sind von der Alzheimer-Krankheit betroffen. Jahr für Jahr treten etwa 300.000 Neuerkrankungen auf. Einer Umfrage der DAK zufolge fürchtet sich jeder zweite Deutsche davor, an Demenz zu erkranken. Offenbar nimmt mit dem Alter die Sorge zu. Einer aktuellen Umfrage im Auftrag der gemeinnützigen Alzheimer Forschung Initiative zufolge fürchten von den über 70-Jährigen 61 Prozent die Erkrankung, bei den unter 30-Jährigen sind es lediglich 14 Prozent.
Kommen sie alle in nicht allzu ferner Zukunft für einen Biomarker-Test infrage? Und wie geht es nach dem Test weiter, wenn dieser ein hohes Krankheitsrisiko anzeigt? Sich Jahre vor einem möglichen Krankheitsausbruch als potenzieller Alzheimerpatient zu outen, dürfte gegenwärtig ein gesellschaftliches Tabu darstellen. Nicht ohne Grund bleiben die meisten Betroffenen anonym – etwa jene, die Träger von einem oder mehreren APOE4-Allelen sind und sich auf dem englischsprachigen Webforum www.ApoE4.info austauschen. Der APOE4-Genotyp gilt als der wichtigste genetische Risikofaktor für die Alzheimererkrankung.

© Roche Pharma AG

Die Angst vor Diskriminierung hält Martina Roes für berechtigt, sie beobachtet in unserer Gesellschaft die Tendenz, auf unerklärbare Krankheitsphänomene mit Diskriminierung und Stigmatisierung zu reagieren. Demenz sei daher nicht nur eine neurodegenerative Erkrankung, sondern eine, die die Menschenrechte mit beeinflusse und somit die Vulnerabilität noch verstärke.

Wann fängt Alzheimer an?

Die Demenzprädiktion hinterfragt unsere üblichen Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit. Wann hört das eine auf, wann fängt das andere an? Darauf gibt es keine einfachen Antworten. Eine pragmatische Orientierung zu dem Thema bietet der wissenschaft-liche Beirat der Bundesärztekammer, der im März eine „Stellungahme zum Umgang mit prädiktiven Tests auf das Risiko für die Alzheimer Krankheit“ herausgegeben hat. Der Vorsitzende des zuständigen Arbeitskreises „Alzheimer-Risikodiagnostik“, Prof. Robert Jütte, zeigt sich im Interview mit dem Ärzteblatt gegenüber den prädiktiven Tests skeptisch: Diese seien lediglich für einen kleinen Personenkreis sinnvoll, den meisten Menschen brächten sie nichts und könnten sogar schaden. In der Stellungnahme wird Personen ohne Symptome und ohne familiäre Belastung von prädiktiven Tests ebenso abgeraten wie zunächst Personen mit subjektiven Beschwerden. Das gleiche gilt für asymptomatische Personen mit familiärer Belastung und spätem Erkrankungsbeginn. Lediglich bei Personen ohne Symptome, aber mit einer hohen familiären Belastung und frühem Erkrankungsbeginn eines Verwandten ersten Grades mache es nach ärztlicher Aufklärung dagegen durchaus Sinn, sich auf das Vorhandensein von Genmutationen untersuchen zu lassen, heißt es in der Stellungnahme. Darin wird auch angeregt, die Werbung für solche Tests zu kontrollieren.

Aktiv geworden ist auch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF). Es fördert das Diskursverfahren „Konfliktfall Demenzvorhersage“, das eine ethische, rechtliche sowie öffentliche Debatte zu dem Thema beleben soll (Details dazu im Infokasten). Eine Stakeholder-Konferenz wird im Juni dieses Jahres stattfinden. Sie dürfte der Diskussion zur Demenz-prädiktion wichtige Impulse verleihen. Diese sind dringend notwendig, denn es gibt noch viele unbeantwortete Fragen.

Lektüretipp:
What if You Knew Alzheimer’s Was Coming for You? New York Times, 17. November 2017 https://www.nytimes.com/interactive/2017/11/17/opinion/sunday/What-if-You-Knew-Alzheimers-Was-Coming-for-You.html

 

ZUM HINTERGRUND

Bei Frühtests, die mittels Biomarker Vorboten der Krankheit aufspüren, bevor die ersten Symptome auftreten, können verschiedene Verfahren angewendet werden: zum Beispiel die Positronen-Emissions-Tomographie (PET), ein bildgebendes Verfahren der Nuklearmedizin, oder eine Analyse der Gehirn-Rückenmarks-Flüssigkeit. Ferner werden momentan blutblasierte Biomarker-Tests entwickelt. Der Biophysiker Prof. Gerwert sieht den von ihm entwickelten Bluttest als mögliches Eingangsscreening, um überhaupt das Krankheitsrisiko zu identifizieren. Im zweiten Schritt würde dann ein PET-Scan oder eine Analyse der Rückenmarksflüssigkeit erfolgen, erläutert der Forscher. Unter Biomarkern sind charakteristische biologische Merkmale zu verstehen, die objektiv gemessen werden und auf einen krankhaften Prozess im Körper hinweisen können. Die Identifikation von Biomarkern, die mit Demenz im Zusammenhang stehen, ist Gegenstand der aktuellen Forschung. Grob kann man beispielsweise zwischen genetischen und neurologischen Biomarkern unterscheiden.
Eine Übersicht der Verfahren zur Diagnostik der Alzheimer-Krankheit kann in der Stellungnahme der Bundesärztekammer nachgelesen werden: http://www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/user_upload/downloads/pdf-Ordner/WB/SN_Alzheimer_Risikodiagnostik.pdf