Im Gespräch

„Die Situation ist verworren“

Prof. Jochen Taupitz zur Sterbehilfe in Deutschland

Berlin (pag) – Ärzte sind verunsichert, weil sie befürchten müssen, sich strafbar zu machen. Patienten sind es, weil sie nicht wissen, ob sie in ihrer Not Hilfe bekommen. Strafrechtliche Vorschriften und Gerichtsentscheidungen sorgen dafür, dass die Situation der Sterbehilfe in Deutschland momentan ziemlich unübersichtlich ist. Die drängendsten Probleme zeigt der Jurist Prof. Jochen Taupitz im Interview auf und stellt Lösungsmöglichkeiten vor.

Wie würden Sie die derzeitige Situation der Sterbehilfe in Deutschland charakterisieren?

Taupitz: Soweit Sterbehilfe in dem Sinne betroffen ist, dass einem anderen Menschen bei der Selbsttötung geholfen wird, ist die Situation verworren. Erstens gibt es seit 2015 mit dem Paragrafen 217 Strafgesetzbuch eine unselige Strafvorschrift zur strafbaren Beihilfe zum Suizid, deren Auslegung höchst umstrittenist. Es gibt zweitens eine damit nicht in Einklang zu bringende Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts, wonach der Staat unter bestimmten Voraussetzungen verpflichtet ist, ein tödlich wirkendes Medikament zum Zweck des Suizids zur Verfügung zu stellen. Und es gibt eine Entscheidung des Oberlandesgerichts Hamburg, welche die ganz alte Entscheidung des Bundesgerichtshofs zum Wittig-Fall wiederbeleben will. Danach muss jemand, der erlaubtermaßen Beihilfe zum Suizid leistet, trotzdem Hilfe leisten, wenn der Suizident bewusstlos geworden ist. Schließlich gibt es in den einzelnen Ärztekammerbezirken unterschiedliche berufsrechtliche Regeln: In manchen Kammerbezirken ist es den Ärzten strikt verboten, Beihilfe zum Suizid zu leisten, in anderen nicht. Das ist insgesamt kaum zu verstehen.

Prof. Jochen Taupitz © pag, Fiolka

Wo bestehen aus Ihrer Sicht bei den Betroffenen – sowohl Patienten als auch Palliativmedizinern und Hospizmitarbeitern – die größten Probleme?

Taupitz: Ein Patient kann nicht sicher sein, dass er sich vertrauensvoll an seinen Arzt wenden kann und dieser ihm – wenn er einen ernsthaften und dauerhaften Sterbewunsch hat – dann auch hilft und helfen darf. Abgesehen von den in einigen Kammerbezirken drohenden berufsrechtlichen Konsequenzen macht sich der Mediziner möglicherweise nach dem neuen Paragraf 217 strafbar, weil dieser die geschäftsmäßige Sterbehilfe unter Strafe stellt.

Geschäftsmäßig heißt …

Taupitz: … dass es in Wiederholungsabsicht geschieht. Der Gesetzgeber hat in der Gesetzesbegründung ausdrücklich geschrieben, dass bereits das erstmalige Helfen in Wiederholungsabsicht strafbar sein kann. Ich meine: Wenn ein Arzt aus Gewissensgründen einem Patienten in einer bestimmten Situation Beihilfe zum Suizid leistet, dann wird er das aufgrund seines Gewissens in einer vergleichbaren Situation wieder tun. Gerade eine Gewissensentscheidung trägt von Anfang an die Wiederholungsabsicht in sich. Das Gewissen schlägt ja nicht heute so und morgen anders, sondern es gebietet einem, in einer vergleichbaren Situation gleich zu handeln. Deswegen denke ich, dass gerade Palliativmediziner und Mediziner in Hospizen, die verhältnismäßig oft entsprechende Sterbewünsche angetragen bekommen, vor einem erheblichen Strafbarkeitsrisiko stehen.

Wie sieht es mit den Angehörigen aus?

Taupitz: Auch hier zeigen sich die Ungereimtheiten des Paragrafen 217, zum Beispiel folgendes Szenario: Meine Eltern sind krebskrank, mein Vater, der bereits schwerer erkrankt ist, bittet mich, ihn zu Dignitas in die Schweiz zu fahren. Komme ich dieser Bitte nach, begehe ich Beihilfe zum Suizid, die nicht strafbar ist. Wenn mich aber auch meine Mutter bittet, für sie später einmal dasselbe zu tun, und ich ihr das zusage, besteht bereits eine Wiederholungsabsicht bei mir und damit bin ich strafbar. Kurz gesagt: Wenn ich für Vater und Mutter dasselbe mache, bin ich dran, wenn ich es nur für einen Angehörigen tue, habe ich nichts zu befürchten.

Für Angehörige sicherlich nur schwer nachvollziehbar.

Taupitz: In der Tat, hinzu kommt: Setze ich meinen Vater unter Druck, nach dem Motto „Willst du denn wirklich noch länger leben? Besser, du stirbst bald, dann musst du nicht mehr leiden und das wird alles nicht so teuer“, wenn ich diesen Druck nur bei einem Angehörigen ausübe, besteht keine Strafbarkeit. Ist das nicht aber eigentlich viel schlimmer als zwei Angehörigen auf ihre ausdrückliche und frei verantwortliche Bitte hin Beihilfe zu leisten?

Allerdings gibt es noch keine Rechtsprechung, so dass noch unklar ist, wie diese Vorschrift ausgelegt wird.

Taupitz: Wir wissen auch nicht, ob das Bundesverfassungsgericht sie überhaupt für verfassungsmäßig erklärt. Das sorgt bei betroffenen Medizinern für eine ganz erhebliche Unsicherheit.

Wie wirkt sich diese Rechtsunsicherheit in der Praxis aus?

Taupitz: Ich höre immer wieder von Palliativmedizinern, dass sie in Sorge sind, sich strafbar zu machen und deshalb vorsichtshalber gar nicht auf Fragen von Patienten zum Suizid eingehen. Es kommt auch die alte Angst wieder auf, ob man überhaupt hochdosierte Schmerzmittel verschreiben darf, wenn zu befürchten ist, dass der Patient sie hortet und sie dann zum Zweck des Suizids alle auf einmal nimmt.

Ist der Mediziner bereits dran, wenn er damit rechnen muss?

Taupitz: Ich meine nein, aber Mediziner sind keine Juristen. Ich befürchte daher, dass die frühere Sorge, hochdosierte Betäubungsmittel und Schmerzmittel nicht verschreiben zu dürfen, im Gefolge des Paragrafen 217 wieder aufkommt.

Was bedeutet das für die Patienten?

Taupitz: Sie sind natürlich verunsichert, weil sie nicht wissen, ob sie in ihrer Not Hilfe bekommen. Es ist bezeichnend, dass beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) als Folge der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts bereits über 100 Anträge auf Zurverfügungstellung entsprechender Betäubungsmittel zum Zweck des Suizids vorliegen.

… denn die Behörde dürfte für die Patienten nicht die erste Wahl sein?

Taupitz: Wenn ich mich in die Lage eines Patienten hineinversetze, würde ich zunächst versuchen, das mit dem Arzt meines Vertrauens zu klären, bevor ich mich an eine anonyme Bundesbehörde wende.

Bislang hat das BfArM keinem Antrag stattgegeben. Das wird sich auch in absehbarer Zukunft nicht ändern, denn der Bundesgesundheitsminister hat die Behörde Ende Juni schriftlich auffordern lassen, solche Anträge zu versagen. Wie bewerten Sie die Situation?

Taupitz: Der ehemalige Verfassungsrichter Di Fabio hat in einem Gutachten dargestellt, dass sich das BfArM, wie er, auf den Standpunkt stellen kann, die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts sei verfassungswidrig und müsse deswegen nicht befolgt werden. Wobei sie ohnehin nur inter partes wirkt, das heißt zwischen den Parteien des konkreten Rechtsstreits. Für andere Fälle entfaltet das Urteil keine unmittelbare Bindungswirkung.

Wir sprechen von einer Patientin, die bereits verstorben ist.

Taupitz: Richtig. Für andere Betroffene, also weitere Antragsteller, entfaltet das Urteil nur insoweit eine weiche Bindungskraft, als die Behörde es nicht einfach unberücksichtigt lassen darf, sondern sich mit ihm auseinandersetzen muss. Aber wenn die Behörde das Urteil für verfassungswidrig hält, dann wird sie ihm nicht folgen. Dieser Auffassung hat sich jetzt offenbar auch der Bundesgesundheitsminister angeschlossen, indem er das BfArM angewiesen hat, Anträge abschlägig zu bescheiden.

© pag, Fiolka

Ist es nicht ein fatales Signal, wenn ein Minister Urteile von Bundesgerichten für nichtanwendbar erklärt?

Taupitz: Wenn man sie für verfassungswidrig hält, ist das nur konsequent. Herr Di Fabio argumentiert, die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts sei verfassungswidrig, weil das Gericht seine Auslegungskompetenz überschritten habe. Es sei Sache des parlamentarischen Gesetzgebers zu entscheiden, ob tödlich wirkende Arzneimittel zum Zweck des Suizids zur Verfügung gestellt werden dürfen, und das Gericht habe nicht das Recht gehabt, das Betäubungsmittelgesetz gegen den deutlichen Willen des Gesetzgebers auszulegen. Das sehen allerdings viele Juristen ganz anders.

Sind die Voraussetzungen zur Antragsbewilligung überhaupt erfüllbar?

Taupitz: Erstens muss es sich um eine eigenverantwortliche Entscheidung handeln. Zweitens muss dem Gericht zufolge unerträgliches Leid bestehen. Sicherlich gibt es verhältnismäßig wenig Fälle, bei denen die Palliativmedizin nicht helfen kann, beispielsweise durch palliative Sedierung. Das ist die Gabe eines hochwirksamen Schmerzmittels, die zu einem Dämmerzustand führt, und der Patient bekommt dann – salopp formuliert – nichts mehr mit. Das ist sicherlich keine Suizid- oder Tötungsmaßnahme. Wenn Schmerzen auf diese Weise gelindert werden können, ist die dritte Voraussetzung des Bundesverwaltungsgerichts nicht erfüllt: nämlich dass das Leid nicht anders abwendbar ist. Das ist im jeweiligen Fall festzustellen und aus meiner Sicht muss dazu ein Palliativmediziner als Sachverständiger befragt werden.

Aber besteht dabei nicht die Gefahr, den Patientenwunsch zu missachten? Viele Betroffene wollen ja gar nicht erst in diesen sedierten Zustand kommen.

Taupitz: Ja, und man muss auch sehen, dass der Gesetzgeber und die Rechtsprechung das Selbstbestimmungsrecht von Menschen, insbesondere von Patienten, immer weiter gestärkt haben: etwa durch das Patientenverfügungsgesetz und das Patientenrechtegesetz. Übrigens sagt auch Herr Di Fabio, dass es ein Recht auf Suizid gibt, also dass jeder Mensch selbstbestimmt sterben darf. Die Frage ist nur, inwieweit der Staat dabei helfen muss, helfen darf. Letztlich ist das auch der Streit um den Paragrafen 217: Inwieweit darf der Staat zu verhindern versuchen, dass sich ein Auffassungswandel in der Gesellschaft vollzieht, dass das menschliche Leben nicht mehr den Stellenwert wie bisher hat und dass sich das Menschenbild verändert? Und welchen Stellenwert hat umgekehrt das Selbstbestimmungsrecht der Menschen, die sich wirklich frei und eigenverantwortlich für einen Suizid entscheiden? Fest steht jedenfalls, dass deren Selbstbestimmungsrecht durch das Gesetz und durch die Ministerentscheidung ganz konkret eingeschränkt wird, während der befürchtete Auffassungswandel in der Gesellschaft geradezu spekulativ ist.

So, wie es jetzt ist, kann es nicht bleiben, hat kürzlich die Bundestagsabgeordnete Sabine Dittmer gesagt. Wer müsste jetzt handeln, der Gesetzgeber oder die Gerichte?

Taupitz: Es muss abgewartet werden, was das Bundesverfassungsgericht sagt. Zwei Möglichkeiten: Wird Paragraf 217 kassiert, stellt sich für den Bundestag die Frage, ob er etwas anderes schafft, was nach der Urteilsbegründung des Gerichts verfassungskonform ist. Die zweite Möglichkeit ist, dass das Bundesverfassungsgericht das Gesetz für verfassungsgemäß erklärt.

Und dann?

Taupitz: In diesem Fall sind die Strafgerichte und die Strafrechtswissenschaftler aufgefordert, das Gesetz sachgerecht zu interpretieren. In der Literatur werden bereits Möglichkeiten diskutiert, es so einengend zu interpretieren, dass es für die Praxis keinen allzu großen Schaden anrichtet.

Zum Beispiel?

Taupitz: Indem man den Begriff „geschäftsmäßig“ darauf beschränkt, dass jemand die Beihilfe zum Suizid gewissermaßen zu seinem Beruf macht – wie etwa ein Sterbehelfer oder der Hamburger Verein „Sterbehilfe Deutschland“, für die das zu einem alltäglichen Geschäft wird. Im Gesetz steht allerdings nur Wiederholungsabsicht, und ob diese beruflich bedingt ist oder auf Mitleid oder Gewissensgründen beruht, ist nach dem Willen des Gesetzgebers offenbar unerheblich.

Wie wären Sie die ganze Problematik angegangen?

Taupitz: Man hätte eine Norm machen sollen, die unter bestimmten engen Voraussetzungen insbesondere die ärztliche Beihilfe zum Suizid erlaubt. Neben Dokumentationspflichten gehört dazu das Vier-Augen-Prinzip: zwei unabhängig voneinander handelnde Ärzte, die insbesondere die Einwilligungsfähigkeit des Betroffenen und die Stabilität seines Sterbewunsches eruieren, vor allem aber auch Alternativen zum Suizid aufzeigen, insbesondere die Möglichkeiten der Palliativmedizin. Das Fatale an der neuen Sterbehilferegelung ist ja, dass Sie oder ich als Laie Beihilfe zum Suizid leisten dürfen. Aber ein Fachmann, der genau weiß, welche Mittel in welcher Reihenfolge gegeben werden müssen, damit es nicht zu unsäglichen Qualen kommt, der darf das nicht – wenn er es aus Gewissensgründen macht und damit in Wiederholungsabsicht. Dass man das Feld den Laien bei der einmaligen Handlung überlässt, das ist eigentlich ein Widerspruch in sich.

Ein Plädoyer für die Suizidbeihilfe in ärztlicher Hand?

Taupitz: Ja, vorbehaltlich der eigenen Gewissensentscheidung des Arztes gehört diese Hilfe in die Hand von Ärzten, die die Selbstbestimmungsfähigkeit des Betroffenen prüfen, die die richtigen Mittel auswählen, die zugleich dem Leben wie auch der Leidensminderung verpflichtet sind und damit auch über medizinische Alternativen informieren und beraten können. Ärzte könnten damit versuchen, Patienten von ihrem Suizidwunsch abzubringen – Suizidprävention wäre eigentlich das Wichtige. Das hieße mit anderen Worten, dass man vertrauensvoll mit seinem Arzt sprechen können sollte und dieser dann auch – wenn man immer noch am Sterbewunsch festhält – die notwendigen Mittel verschreiben dürfte.

Wie sehen Sie die deutsche Sterbehilfedebatte im internationalen Kontext?

Taupitz: Einige Länder stellen die Beihilfe zum Suizid explizit unter Strafe. In anderen wie etwa der Schweiz ist die Beihilfe nur dann strafbar, wenn sie aus gewinnsüchtigen Motiven geschieht. Und dann gibt es noch Länder, die argumentieren: Suizid und Suizidversuch sind nicht strafbar, warum also die Hilfe zu einer nicht strafbaren Handlung strafbar machen?

Und welche Länder sind an dem einen Extrem und welche am anderen zu verorten?

Taupitz: England zum Beispiel verbietet die Beihilfe zum Suizid. Die Niederlande, Belgien und Luxemburg erlauben umgekehrt sogar aktive Sterbehilfe, die gezielte Tötung eines anderen, und zum Teil sogar, wenn der Betroffene nur mutmaßlich mit dem Sterben einverstanden ist. Für mich ist das ein Unding, dass man einen mutmaßlichen Willen, also die unsichere Extrapolation früherer Äußerungen, zur Grundlage einer Tötungshandlung macht, zum Teil sogar bei Minder-jährigen. Insofern besteht eine große Bandbreite unterschiedlicher Regelungen. Letztlich bewegen wir uns irgendwie in der Mitte.

 

ZUR PERSON
Der Jurist Jochen Taupitz ist ein renommierter Experte für Gesundheitsrecht und Medizinethik. Er forscht unter anderem zu: Fortpflanzungsmedizin, Stammzellforschung, Sterbehilfe, Persönlichkeitsrecht, Patientenverfügungen. Der Ordinarius für Bürgerliches Recht, Zivilprozessrecht, Internationales Privatrecht und Rechtsvergleichung an der Universität Mannheim ist seit 1998 außerdem Geschäftsführender Direktor des Instituts für Deutsches, Europäisches und Internationales Medizinrecht, Gesundheitsrecht und Bioethik der Universitäten Heidelberg und Mannheim. Taupitz ist Vorsitzender der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer. Er ist ferner Vorstandsmitglied des Arbeitskreises Medizinischer Ethik-Kommissionen in der Bundesrepublik Deuschland. Von 2012 bis 2016 war er stellvertretender Vorsitzender des Deutschen Ethikrats.
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