Im Fokus

Vision Zero für Krebs

Über neue Maßstäbe im Kampf gegen eine Volkskrankheit

Berlin (pag) – Prof. Christof von Kalle regt sich auf: Bei der Veranstaltung „Neuvermessung der Onkologie“ prangert der Wissenschaftler des Deutschen Krebsforschungszentrums und des Nationalen Centrums für Tumorerkrankungen die gesellschaftliche Gleichgültigkeit im Kampf gegen Krebs an. Er hinterfragt auch die vermeintliche Kostenexplosion in der Onkologie.

Der Krebsmediziner bekennt, dass das Thema für ihn ein Aufreger sei. Er beschäftigt sich mit verschiedenen Methoden molekularer Diagnostik. „Und jedes Mal, wenn man damit auftritt, hat man die Fragen an der Backe: Haben wir jetzt eine Zwei-Klassen-Medizin, können wir uns das leisten?“

Wann ist eine Therapie zu teuer?

Von Kalle wirbt für ein Umdenken und zieht deshalb eine Parallele zu den bis in die 1970er Jahre steigenden Unfallzahlen. In Gesamtdeutschland sind etwa 1970 noch über 21.000 Menschen jährlich im Straßenverkehr gestorben. Damals habe es eine Betrachtungsweise gegeben „so wie wir heute Krebspatienten betrachten“. In der Verkehrspolitik fand allerdings ein Umdenken statt: Ausgehend von der aus Schweden kommenden „VisionZero“ konnten in Europa die Unfallzahlen deutlich reduziert werden, berichtet von Kalle. In Deutschland versterben aktuell etwas über 3.000 Menschen jährlich im Verkehr. „Wir haben damals als Gesellschaft eine Entscheidung getroffen.“ Vision Zero zufolge ist jeder Verkehrstote einer zu viel, gesellschaftlich inakzeptabel.*

Prof. Christof von Kalle © pag, Maybaum

* Der Begriff Vision Zero stammt aus der Arbeitssicherheit und wurde Mitte der 1990er Jahre von der Schwedischen Straßenverkehrsbehörde weiterentwickelt. Er steht für einen Paradigmenwechsel in der Verkehrssicherheit und für ein umfassendes Handlungskonzept. Zwei Grundbedingungen sind maßgeblich. Erstens: Der Mensch macht Fehler. Das System Verkehr muss mit diesen Fehlern rechnen und sie verzeihen. Die Verkehrssicherheitmuss zur gesellschaftlichen Aufgabe werden, in die u.a. auch Automobilindustrie, Bauverwaltung und Versicherungen einbezogen werden. Zweitens: Die Belastbarkeit des menschlichen Körpers wird zum entscheidenden Maßstab. Unfallfolgen dürfen auch im schlimmen Fall nicht mehr tödlich sein. Vision Zero erfordert eine Vielzahl von Einzelmaßnahmen, die alle dem Ziel dienen, die Zahl der Getöteten und Schwerverletzten auf ein Minimum zu reduzieren. Quelle: Verkehrsclub Deutschland

Diese Entschlossenheit vermisst der Mediziner im Kampf gegen Krebs. Er weist darauf hin, dass bei den Kostenberechnungen für plötzliche Todesunfälle im Verkehr völlig andere Zahlen zugrunde gelegt werden als bei verstorbenen Krebspatienten. Amerikanischen Analysen zufolge verursache ein Verkehrstoter Kostenin Höhe von 7,9 Millionen Dollar. „Warum haben wir im Gesundheitssystem nicht die gleiche Betrachtung?“, fragt er. „Da sagen wir, dass eine Therapie von 100.000 Euro zu teuer sei, das könnten wir uns nicht leisten, da gehen wir übermorgen pleite.“

„Wir kommen nicht voran“

Aktuell versterben allein an Darmkrebs etwa so viele Patienten wie früher im Straßenverkehr, betont von Kalle. Der Forscher verspricht nicht, dass jeder Fall verhindert werden kann, aber er sagt, dass sehr viel mehr machbar wäre als momentan getan wird – etwa in der Vorsorge. Die gesellschaftliche Bereitschaft, keinen Krebstoten zu akzeptieren, fehle allerdings. Er klagt an: „Wir sind bereit, den Patienten zu beschuldigen, wir sind bereit, die Verhältnisse zu beschuldigen, und wir sind bereit, unsere Untätigkeit zu entschuldigen. Und deshalb kommen wir an dieser Stelle nicht voran.“ Als aktuelles Beispiel wird auf der Veranstaltung das Einladungsverfahren zur Darmkrebsvorsorge genannt, das in Holland unkompliziert auf die Schiene gesetzt worden sei und hierzulade im „kafkaesken Gemeinsamen Bundesausschuss“ stecken bleibe, so Dr. Georg Ralle, Generalsekretär des Vereins Netzwerk gegen Darmkrebs.

 

BRUSTKREBS UND UNANGENEHME WAHRHEITEN
„Wir alle glauben, in einer menschlichen, solidarischen Gesellschaft zu leben, in der Menschen, die an einer tödlichen Krankheit leiden, jegliche medizinische und auch nicht-medizinische Unterstützung und Pflege erhalten, die sie brauchen. Wir glauben auch, dass weder Kosten noch Mühen gescheut werden, um diesen Menschen das Leben so angenehm wie möglich zu machen und dass es niemals Gesetze geben würde, die die Erforschung neuer, lebensrettender Therapien verhindern. Zumindest war dies meine feste Überzeugung, bis bei mir vor fast sechs Jahren Brustkrebs diagnostiziert wurde. Leider musste ich feststellen, dass es bei Gesetzgebern einen Mangel an tiefergehendem Wissen über das alltägliche Leben mit metastasiertem Brustkrebs gibt“, schreibt Suzanne Leempoels in dem Blog ‚The Metastatic Breast Cancer‘.

Die Patienten sind schuld

Stichwort Prävention: Digitalisierungsexperte und Autor Sascha Lobo hat für die, wie er es nennt, „Präventionsaversion der Öffentlichkeit“ eine Erklärung. Bei der Podiumsdiskussion erläutert er: Bei Krebs finde noch immer eine Schuldzuweisung statt, Stichwort Rauchen und Lungenkrebs. Dieser Mechanismus sei mitverantwortlich dafür, dass Prävention so klein geschrieben werde. Lobo sagt: „In dem Moment, wo unterschwellig gedacht wird, dass die Leute selbst schuld sind, will man auf keinen Fall akzeptieren, dass die kollektive Kostenstruktur verändert wird.“

Die Grundsatzkritik, die von Kalle vorträgt, teilt Jan Geissler von der Europäischen Patientenakademie. „Wir beschränken uns in der Diskussion auf die Kosten pro Box und nicht darauf, wie wir die Probleme lösen und wie wir die Daten generieren, um das, was wirkt, gezielt anwenden zu können.“ Er kritisiert, dass 90 Prozent der Daten in der Onkologie weggeworfen würden. Außerdem bemängelt er eine strikte Trennung zwischen Forschung und Versorgung. „Wir geben wahnsinnig viel Geld für Phase-III-Studien aus und um das Overall-Survival nachzuweisen.“ Wenn das Medikament in der Zulassung und Erstattung sei, passiere nicht mehr viel. Abschließend stellt Geissler klar, dass nicht jeder Patient jedes neue Medikament bekommen wolle, „sondern nur das, was bei ihm wirkt“.

Quelle Grafik: Nationales Centrum für Tumorerkrankungen (NCT), Prof. von Kalle

KOSTEN IN DER ONKOLOGIE 2015 IM VERGLEICH
Folgende Zahlen setzt Prof. von Kalle ins Verhältnis: Die Gesamtausgaben im deutschen Gesundheitssystem betragen 344 Milliarden Euro. 20 Milliarden, also etwa sechs Prozent, werden für die Behandlung von Krebs ausgegeben: „stationär, ambulant, Onkologika, alles – ein Fünfzehntel für eine Erkrankung, die ein Viertel von uns umbringt, und dann wundern wir uns, dass es nicht so richtig klappt.“ Der Anstieg von Ausgaben für Onkologika entspricht etwa dem des Bruttosozialprodukts und ungefähr auch dem der übrigen Medikamentenausgaben, „ganz sicher nicht überdurchschnittlich und ganz sicher nicht unangemessener Weise“. Von den 20 Milliarden Ausgaben für Krebs entfallen vier Milliarden auf Medikamente, davon wiederum etwa die Hälfte auf patentgeschützte. „Die so genannten teuren Medikamente machen ungefähr ein Prozent unserer Gesundheitsaufwendungen aus“, sagt von Kalle und bilanziert: „Wir haben die Möglichkeit, großartige Dinge in der Zukunft zu tun. Das, was wir bisher tun, ist kein Kostentreiber, der uns – bisher jedenfalls – über Gebühr finanziell belastet.“