Im Gespräch

„Es muss einfacher werden, geimpft zu werden“

Prof. Cornelia Betsch über Verbesserungsbedarf im Versorgungssystem

Berlin (pag) – Wie lassen sich Impfraten steigern? Die Gesundheitskommunikationsexpertin Prof. Cornelia Betsch sieht viele Möglichkeiten, das Versorgungssystem zu verbessern und macht konkrete Vorschläge. Über eine Impfpflicht sollte erst nachgedacht werden, wenn diese Optionen ausgeschöpft sind, findet sie – nicht zuletzt, weil eine Pflicht unbeabsichtigte Nebenwirkungen haben könnte.

Prof. Cornelia Betsch © Marco Borggreve

Wie impffreundlich ist das hiesige Versorgungssystem, wo sehen Sie den größten Verbesserungsbedarf?

Prof. Cornelia Betsch: Praktische Barrieren sind ein wichtiger Grund für fehlende Impfungen. In der Arztpraxis können zahlreiche Maßnahmen ergriffen werden, um die Abläufe zu vereinfachen. Ich denke an das Impfen ohne Termin und an Impfsprechstunden am Abend oder am Wochenende. Erinnerungs- oder Recallsysteme durch Praxen gelten als sehr wirksam. In der Praxis aufgehängte Poster können den Patienten einladen, mit dem Arzt zu dem Thema ins Gespräch zu kommen. Im nächsten Schritt ist dann eine vertrauensvolle Gesprächsführung von großer Bedeutung.

Und über die Arztpraxis hinausgedacht?

Betsch: Ganz grundsätzlich muss es unser Versorgungsystem einfacher machen, geimpft zu werden. Neben fachübergreifendem Impfen sind ein aufsuchendes Impfen oder Impfen an anderen Orten wie in Apotheken wichtige Stichwörter. Sinnvoll können auch einfache Verhaltensanstöße, sogenannte Nudges, sein.

Was können diese bewirken?

Betsch: Eine Studie aus den USA hat gezeigt, dass die Impfrate signifikant stieg, wenn Patienten einen vordefinierten Impftermin erhielten. Möglich ist auch der Versand von Impfaufrufen, bei denen direkt ein Termin – z.B. auf Postkarten – eingetragen wird. Solche Verhaltensanstöße können von einzelnen Praxen, aber auch auf größerer kommunaler oder nationaler Ebene angewendet werden. In den Niederlanden registriert ein nationales Datenbanksystem gegebene und verpasste Impfungen, sodass individualisierte Erinnerungsbriefe verschickt werden.

Hierzulande wird dagegen über eine Impfpflicht gegen Masern diskutiert.

Betsch: Das erleben wir nicht zum ersten Mal. Politiker sagen Impfpflicht in die Kamera, die Medien rotieren – und am Ende passiert nichts. 2015 wurde die Beratungspflicht vor dem Kindergarteneintritt eingeführt. Mir ist allerdings keine Evaluation dieser Maßnahme bekannt, möglicherweise liegen da einfach noch keine Daten vor. Wichtig ist aber, auch die Erwachsenen im Blick zu behalten, denn auch sie sind zum Beispiel von Masern-Ausbrüchen betroffen.

Warum raten Sie von einer Impfpflicht ab?

Betsch: Über eine Impfpflicht sollte erst ernsthaft geredet werden, wenn die vielen Möglichkeiten, das System zu verbessern, ausgeschöpft sind. Und dazu gehört, sehr genau zuzuhören, warum Menschen sich nicht impfen lassen. Genau dort muss man dann ansetzen. Außerdem ist bei einer teilweisen Impfpflicht zu erwarten, dass freiwillige Impfungen weniger wahrgenommen werden, insbesondere von unsicheren oder skeptischen Menschen. Somit kann sich zwar die Impfquote für die Pflichtimpfung erhöhen, andere Impfquoten könnten aber leiden. Last but not least: Wie sollen die Ärzte argumentieren, wenn die Masern-Impfung Pflicht ist und der Rest jetzt bitte freiwillig genauso erfolgen sollte? Die Gespräche zwischen Ärzten und Patienten werden dadurch sicher nicht einfacher.

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ZUR PERSON
Prof. Cornelia Betsch hat an der Universität Erfurt eine DFG-Heisenberg-Professur für Gesundheitskommunikation. Zu ihren Forschungsinteressen zählen: evidenzbasierte Gesundheitskommunikation, individuelle und soziale Aspekte bei Gesundheitsentscheidungen, die Psychologie des Infektionsschutzes vor allem im Bereich Impfen und umsichtigem Gebrauch von Antibiotika sowie Risikowahrnehmung und -kommunikation im Gesundheitsbereich. Sie berät und arbeitet mit der Bundeszentrale für Gesundheitliche Aufklärung, dem Robert Koch-Institut und der Weltgesundheitsorganisation zusammen.