Im Gespräch

„Was ist unsere Kernmarke, unsere Kernbotschaft?“

Austausch zwischen Babyboomern und Generation Y

Berlin (pag) – Babyboomer, die sich gleich zu Beginn ihres Berufslebens in einer Ärzteschwemme behaupten mussten, treffen auf die Generation Y. Von den Ypsilonern heißt es, dass sie vieles infrage stellen, etwa das Arztsein unter den aktuellen Bedingungen des Versorgungsbetriebs. Was verbindet die verschiedenen Arztgenerationen – und was trennt sie? Gerechte Gesundheit hat zum gemeinsamen Gespräch geladen, um genau das herauszufinden.

Aktuell ist Digitalisierung das Top-Thema im Gesundheitswesen. Was waren die spannenden Fragen und kontroversen Themen, als Sie angefangen haben zu praktizieren?

Dollman: Wir mussten uns wahnsinnig nach der Decke strecken, um eine Stelle zu bekommen. Damals gab es einen ganz schwierigen Arbeitsmarkt. Mittlerweile bilde ich viele Mediziner aus und wenn ich denen erzähle, was wir alles anstellen mussten, um einen Job zu bekommen, kommt es mir so vor, als würde ich vom Krieg erzählen.

Angeregte Diskussion in der Redaktion von Gerechte Gesundheit: Was macht den Arztberuf aus? Chefredakteurin Antje Hoppe, Jana Aulenkamp, Lukas Hinkelmann und Herausgeberin Lisa Braun (v.l.). Auf der anderen Seite des Tischs sitzen Götz Geiges und Martina Dollman. © sämtliche Aufnahmen des Interviews: pag, Anna Fiolka

Was mussten Sie alles anstellen?

Geiges: Auf einer halben Stelle Vollzeit arbeiten.

Dollman: Viel Extra-Arbeit war ganz normal. Ich habe am Moabiter Krankenhaus in der Chirurgie angefangen, dort ging es sehr hierarchisch zu. Der Chefarzt hat beispielsweise verlangt, dass die Assistenten samstags seine Patienten visitieren. Dienstpläne haben keinen interessiert. Wir mussten alle am Wochenende antreten, außerhalb unserer Arbeitszeit. Das hat uns sehr beschäftigt, auch das AiP fanden wir unfair, dagegen haben wir noch gegen Ende meiner Studienzeit demonstriert.

Geiges: Ich war der erste AiP-Jahrgang und gehörte auch zu den Ersten, die ein mündliches Examen machen durften. Mein erstes Gehalt betrug 806 DM netto. Zum Vergleich: Für die Miete musste ich in Wangen im Allgäu 800 DM bezahlen. Ohne Dienste hätte ich mich nicht finanzieren können. Durch diesen Mechanismus wurde man vom System aufgesaugt und instrumentalisiert.

Das hat Ihre Generation stark geprägt?

Dollman: Bis zum heutigen Tag. Allerdings haben wir damals auch etwas Gutes mitbekommen: Wir sammelten unglaublich viel Berufserfahrung in sehr wenigen Jahren. Während der Unizeit haben wir uns auch damit beschäftigt, wie Medizin in anderen Ländern organisiert ist – vor allem in Entwicklungsländern. Barfußmedizin heißt das.

Aulenkamp: Barfußmedizin?

Dollman: Ja, wir haben geguckt, wie Medizin in Afrika organisiert ist, was es dort für Strukturen gibt und wie man sich engagieren kann. Dazu gab es Initiativen und Vorlesungsreihen.

Geiges: Für mich war HIV/Aids das bestimmende Thema. Ich werde nie vergessen, wie uns ein junger Virologe, der gerade aus den USA kam, seine Eindrücke geschildert hat. In den 80er Jahren ist diese aus heutiger Sicht unvorstellbare Panik ausgebrochen.

Aulenkamp: Ich finde es spannend, dass uns diese Themen auch heute noch beschäftigen. Die Barfußmedizin von damals ist jetzt der Public-Health-Austausch. Dazu gibt es bei der Bundesvertretung der Medizinstudierenden einen eigenen Bereich. Und zu HIV/Aids klären viele Medizinstudierende in den Schulen auf – nicht nur in Deutschland, sondern weltweit.

Was treibt die junge Generation an, mit welcher Motivation gehen Sie in den Arztberuf?

Aulenkamp: Mein damaliger Antrieb war, verstehen zu wollen, wie der Körper funktioniert, und Menschen helfen zu können. Mir ist Engagement und einen Beitrag zu leisten schon immer wichtig gewesen und als Mediziner kann man sehr konkret helfen.

Haben Sie den Eindruck, dass Sie aufgrund der günstigen Arbeitsmarktsituation Ihren Arbeitsplatz heute stärker mitgestalten können?

Aulenkamp: Überhaupt nicht, der Wandel ist so schleppend. Deshalb engagieren sich mittlerweile viele junge Ärztinnen und Ärzte, um etwas verändern zu können. Ich kenne viele, die sich nach ihrem Studium eben nicht in den klinischen Alltag einspannen lassen  wollen. Auch das Thema Überstunden ist noch immer aktuell: Bei Freunden von mir ist ein Drittel der Arbeitszeit unbezahlt.

Hinkelmann: Ich habe den Eindruck, dass die günstige Stellensituation der einzige Unterschied zu früher ist.

Ihr Ziel steht bereits fest, Herr Hinkelmann: Später wollen Sie in der Psychiatrie arbeiten.

Hinkelmann: Das stimmt. Allerdings gibt es immer wieder Phasen, in denen ich mich frage, ob ich wirklich in die Klinik gehen und mir die aktuellen Arbeitsbedingungen antun soll. Hoffentlich habe ich nach meinen Famulaturen keine Zweifel mehr, wenn ich in der Praxis erlebt habe, was ich bewirken kann.

Den Klinikbetrieb haben Sie bereits aus der Perspektive des Krankenpflegers erlebt.

Hinkelmann: Die Bedingungen sind sehr ähnlich. Den Beruf des Pflegers würde ich sehr gerne ausüben, aber nicht unter den gegenwärtigen Bedingungen. Ein befreundeter Mitauszubildender meinte während der Ausbildung zu mir, dass selbst wenn 95 Prozent der Arbeitszeit blöd sind, die restlichen fünf Prozent, in denen Zeit ist, sich richtig mit Patienten zu beschäftigen, genug motivieren, weiterzumachen.

Geiges: Diese fünf Prozent, die es wert machen, werden allerdings instrumentalisiert.

Beide Generationen haben das Gefühl, über die Maße beansprucht zu werden. Demoralisiert das System?

Dollman: Es stellt eine Menge Forderungen an uns, darunter leiden wir. Aber früher war es wirklich schlimmer. Wir bemühen uns heutzutage, die Ausbildung sehr ernst zu nehmen. Die jungen Ärzte haben ganz andere Forderungen an uns und die Ausbildung – was ich gut finde, weil das bei uns früher zu kurz kam. Heutzutage werben wir um die Jungen und versuchen, für sie gute Bedingungen zu schaffen.

Aber?

Dollman: Obwohl ich den Beruf immer wieder ergreifen würde, weil es ein toller Job ist, Ärztin zu sein, sind die Bedingungen in der Medizin immer noch schwierig. Wir sind halbe Manager geworden und müssen uns sehr viel mit Ökonomisierung auseinandersetzen. Das ist ein Grundthema geworden.

Aulenkamp: Ökonomie an sich ist nichts Schlechtes, die Frage ist für mich, wo die Kommerzialisierung anfängt.

Dollman: Bei meinen Chefarztbesprechungen geht es um Finanzen, um unser Überleben als Wirtschaftsunternehmen. Das können wir nicht ignorieren. Schreiben wir rote Zahlen, können wir unsere Arbeit nicht mehr ordentlich machen. Das sitzt uns die ganze Zeit im Nacken.

 Martina Dollman und Dr. Götz Geiges © pag, Fiolka
Martina Dollman und Dr. Götz Geiges © pag, Fiolka

Geiges: Als Niedergelassener erlebe ich genau das gleiche: Wenn ich keine schwarze Null mehr schreibe und pleitegehe, kann ich nichts Gutes mehr bewegen – und ich glaube, dass wir gute Medizin machen. Andererseits denke ich auch, dass wir Mediziner uns nicht wundern dürfen.

Warum?

Geiges: Das Hamsterrad wurde zwar von anderen hingestellt, aber wir Mediziner sind hineingestiegen und haben es beschleunigt – und zwar in vielen Bereichen.

Können Sie welche nennen?

Geiges: Damals waren es die Kollegen, die zu immer mehr Diensten bereit waren. Heute sind es die Abrechnungsziffern, die nicht budgetiert sind. Die laufen wie geschnitten Brot und andere eben nicht.

Haben sich die Ärzte das Heft des Handelns aus der Hand nehmen lassen? Was können die jungen Ärzte anders machen?

Hinkelmann: Ich finde das schwierig, weil ich auch die Situation in der Pflege kenne und die ist noch wesentlich schlechter.

Aber der Arzt ist im Unterschied zum Pfleger ein freier Beruf. Deshalb sollte man vermuten, dass er mehr Gestaltungsspielräume hat.

Aulenkamp: Aber wir lernen gar nicht, wie man gestalten kann und bekommen dafür viel zu wenige Tools und Methoden an die Hand! Früher waren für mich BWLer der Feind im Krankenhaus, bis ich in einer Studierendengruppe mit vielen BWLern war. Dort habe ich verstanden, dass es darum geht, wie wir als Menschen effizient zusammenarbeiten, was für Tools und Methoden man benutzen kann, um Konflikte zu lösen, Kommunikation zu verbessern und Prozesse effizient zu gestalten – damit es besser und nicht billiger wird. Dafür gibt es in den Gesundheitsfachberufen leider wenig Verständnis und der Fokus darauf fehlt. Manchmal fehlt die Zeit dafür. Daher lässt man sich so oft den Löffel aus der Hand nehmen und die Gestaltung übernimmt jemand anderes.

Wo passiert das?

Aulenkamp: Im niedergelassenen Bereich kommen die MVZ von anderen Trägern, von denen sich die Jungen anstellen lassen, weil sie sich um alles kümmern. Diese teilweise privaten Träger gehen mit der Zeit, was unserer Berufsgruppe manchmal schwerfällt. Ähnlich sehe ich das mit der Digitalisierung: Entweder machen es die großen Firmen von außen oder wir schauen, dass wir es selbst anpacken. Gestalten und nicht nur verwalten

Also reicht ein Medizinstudium heute nicht mehr? Sollten angehende Ärzte Wirtschaftswissenschaften gleich mit studieren?

Aulenkamp: Ein Studium sollte jeden befähigen, selbst zu denken sowie danach zu handeln, und das findet im Medizinstudium leider kaum statt. Ein Arzt ist nicht nur medizinischer Experte, sondern auch Kommunikator, Gelehrter, er ist Manager und Verantwortungsträger. Zu diesem Konstrukt zählen sieben Rollen und im Medizinstudium geht es leider zu sehr um den medizinischen Experten. Auch in der Weiterbildung und im klinischen Alltag sind die anderen Rollen unterrepräsentiert und es fällt schwer, dafür Raum zu schaffen. Anschließend wundert man sich im Gesundheitswesen, dass die Leute die anderen Rollen nicht gut ausfüllen.

Jana Aulenkamp und Lukas Hinkelmann © pag, Fiolka

Hinkelmann: Im Medizinstudium wird das Bulimielernen praktiziert: Auswendig lernen und für die Klausur wieder auskotzen. Wer das beherrscht, kann gut Medizin studieren. Ich glaube nicht, dass es notwendig ist, parallel Wirtschaftswissenschaften zu studieren. Meine Motivation dafür ist, dass ich mich in dem Denken, das mir im Medizinstudium beigebracht wird, nicht ausschließlich wiederfinden kann.

Aber man braucht doch das Fachwissen.

Hinkelmann: Natürlich, aber die Frage ist, in welchen Veranstaltungsformen es vermittelt wird. In den Modellstudiengängen werden zwar neue Ideen umgesetzt. Leider sind die Veranstaltungen, die etwa problemorientiertes Lernen aufgreifen, die unbeliebtesten im ganzen Studium. Was aber sicher auch an der Sozialisierung der Dozenten liegt, die es dann trotz neuer Formate auf die übliche Weise lehren.

Wenn Sie das Medizinstudium reformieren könnten…

Aulenkamp: würden Führung und Management, alles rund um Arbeitskultur, mehr im Vordergrund stehen.

Traut sich der Nachwuchs deswegen nicht in die Niederlassung? Weil er so wenig über Personalführung, Betriebswirtschaft etc. weiß?

Geiges: Wir ambulanten Ärzte sind ein Auslaufmodell. Die neuen Kollegen werden nicht mehr bereit sein, 60- bis 70-Stunden-Wochen zu akzeptieren.

Hinkelmann: Definitiv nicht.

Geiges: Ich sehe daher die Digitalisierung auch als Versuch, die Lücken aufzufüllen, die fehlende Manpower zu kompensieren.

Dollman: Deshalb finde ich die Versorgungsforschung so wichtig, um herauszufinden, wie wir mit unseren Ressourcen umgehen. Wenn zum Beispiel ein 85-jähriger Patient eine aufwendige kardiologische Intervention bekommt, wird sehr viel Hightech aus dem Regal geholt. Dann werden 20.000 Euro ausgegeben, ohne dass der Nutzen für den Patienten wirklich klar ist. Vielleicht wäre eine gut ausgebildete Pflegekraft auf der Intensivstation die bessere Investition gewesen. Es ist immer eine sehr technische Richtung, in die das Geld fließt. Bei dieser Ressourcenallokation sollten wir Ärzte uns gemeinsam mit der Pflege sehr viel stärker einbringen. Aber die Diskussion gehört auch noch mehr in die Gesellschaft, denn Patienten und Angehörige haben ebenfalls Ansprüche.

Geiges: Angesichts der Ökonomisierungsdiskussion finde ich es bemerkenswert, dass Sie, Frau Aulenkamp und Herr Hinkelmann, die Ökonomie mit im Blick haben beziehungsweise zusätzlich sogar studieren. Viele Ärzte studieren auch Jura oder BWL – aber kaum einer kommt auf die Idee, Philosophie mitzustudieren, wo Werte und Haltung eine Rolle spielen. Ich frage mich daher, welche Position wir Ärzte in der Gesellschaft einnehmen. Was ist unsere Kernmarke, unsere Kernbotschaft?

Was macht den Kern des Arztberufs aus? Und gibt es überhaupt einen unverrückbaren Kern oder ist der flexibel?

Hinkelmann: Für Patienten da zu sein und ihnen zu helfen, ist für mich das Wichtigste und das macht mir am meisten Freude.

Das sind die fünf Prozent.

Geiges: Die sind es, die uns alle antreiben.

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Martina Dollman: „Bei der Ressourcenallokation sollten wir Ärzte uns gemeinsam mit der Pflege sehr viel stärker einbringen.“
Die Anästhesistin und Intensivmedizinerin ist Chefärztin an den Havelland Kliniken. Sie teilt sich die Stelle mit einem Kollegen. Mit ihm führt sie auch eine Firma, die Workshops zu Hygiene, Infektion und Antiinfektiva anbietet.
Dr. Götz Geiges: „Das Hamsterrad wurde zwar von anderen hingestellt, aber wir Mediziner sind hineingestiegen und haben es beschleunigt.“
Dr. Götz Geiges ist seit 2000 niedergelassener Urologe in Berlin. Er ist Mitglied in diversen Fachgesellschaften und hält Vorträge auf dem Gebiet der Uro-Onkologie, Infektiologie und Kinderurologie.

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Lukas Hinkelmann: „Ich frage mich immer wieder, ob ich wirklich in die Klinik gehen und mir die aktuellen Arbeitsbedingungen antun soll.“
Der Krankenpfleger studiert im sechsten Semester Medizin an der Charité. Später will er in der Psychiatrie arbeiten. Parallel zum Medizinstudium studiert er an der Fernuniversität Hagen Wirtschaftswissenschaften.
Jana Aulenkamp: „Ein Studium sollte jeden befähigen, selbst zu denken, und das findet im Medizinstudium leider kaum statt.“ Jana Aulenkamp ist frischgebackene Ärztin. An der Ruhr-Universität Bochum promoviert sie zu chronischen postoperativen Schmerzen. 2018 war sie Präsidentin der Bundesvertretung der Medizinstudierenden in Deutschland.