Dr. Michael de Ridder: „Das Leben eines 20-Jährigen ist nicht wertvoller als das eines 60-Jährigen“

Nachgefragt bei Dr. Michael de Ridder, Rettungsmediziner

 

Berlin (pag) – Sind Ärzte auf Triage-Entscheidungen vorbereitet, wollen wir von Dr. Michael de Ridder wissen, der viele Jahre eine Rettungsstelle in Berlin-Kreuzberg geleitet hat. Er stellt klar: Jede Behandlungsentscheidung hat sich am Bedarf des einzelnen Patienten zu orientieren. Dass in Italien der 70-jährige beatmungspflichtige Corona-Patient wegen seiner geringeren Lebenserwartung gegenüber dem 30-jährigen per se den Kürzeren zieht, ist für ihn unethisch und nicht vertretbar.

Sind Ärzte auf Triage-Entscheidungen vorbereitet?

Dr. Michael de Ridder: Triage-Entscheidungen zu treffen erfordert erfahrene Fachärzte, das heißt Internisten und Chirurgen mit breiter rettungsmedizinischer und intensivmedizinischer Ausbildung und Praxis; auch Pflegekräfte sind unbedingt hinzuzuziehen – nur so können rasch medizinisch und ethisch vertretbare Behandlungsentscheidungen getroffen werden. Transparenz gegenüber Patienten, Angehörigen und eventuell juristischen Vertretern ist zudem unabdingbar. Wir dürfen davon ausgehen, dass an deutschen Krankenhäusern kompetente Notfallmediziner in ausreichender Zahl vorhanden sind.

Wie bewerten Sie die aktuellen klinisch-ethischen Empfehlungen diverser deutscher intensiv- und notfallmedizinischer Fachgesellschaften zur Zuteilung von Ressourcen?

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de Ridder: Denen schließe ich mich weitestgehend an. Grundsätzlich gilt: Jede Behandlungsentscheidung hat sich am Bedarf des einzelnen Patienten zu orientieren, das heißt, ihr ist eine medizinische und individualethische Beurteilung des Krankheitszustandes des Patienten zugrunde zu legen. Mit anderen Worten: Zwei Menschenleben sind nicht wertvoller als ein einzelnes, und das Leben eines 20-Jährigen ist nicht wertvoller als das eines 60-Jährigen.

Dieses Prinzip wird in Italien offenbar nicht verfolgt.

de Ridder: Die italienischen Fachgesellschaften haben Empfehlungen herausgegeben, die bei Nichtvorhandensein ausreichender intensivmedizinischer Ressourcen als Kriterium nicht die individuelle medizinische Behandlungsbedürftigkeit zugrunde legen, sondern das Kriterium der Maximierung der Jahre geretteten Lebens. Das bedeutet: Der 70-jährige beatmungspflichtige Corona-Patient zieht wegen seiner geringeren Lebenserwartung gegenüber dem 30-jährigen per se den Kürzeren! Dieses Vorgehen halte ich für unethisch und damit nicht vertretbar.

Sie haben in der Vergangenheit nicht mit Kritik am Medizinbetrieb gespart. Wird dieser dem Stresstest durch Corona standhalten?    

de Ridder: Auch wenn unser Gesundheitssystem – gemessen an den Kriterien Leistungsfähigkeit und Verteilungsgerechtigkeit – als das beste der Welt gelten darf, wird es diesen Stresstest nur bestehen können, wenn zugleich die unserer Gesellschaft jetzt empfohlenen und verordneten Präventionsmaßnahmen strikt befolgt werden. Die so oft zitierten Begriffe „Solidargesellschaft“ und „Solidarisches Gesundheitssystem“, die im internationalen Vergleich so oft zur Charakterisierung unserer Gesellschaft herangezogen werden, müssen sich nun beweisen, sollen sie nicht zu einer Worthülse verkommen.

Wie sieht es mit den materiellen Ressourcen aus?

de Ridder: Wir verfügen aktuell über 28.000 Intensivbetten und 25.000 Beatmungsplätze und sind damit bestens aufgestellt. Das Nadelöhr bei der derzeitigen intensivmedizinischen Versorgung stellen indes die 4.800 fehlenden Intensivschwestern und -pfleger dar! Wichtig ist dabei: Höchste Priorität bei allen dem Infektionsschutz geltenden Maßnahmen muss den Pflegekräften sowie den Ärzten und Ärztinnen gelten, denn sie sind unsere derzeit wichtigste Ressource. Ohne ihre Arbeitsfähigkeit wird unsere Krankenversorgung zusammenbrechen.

Sind Sie optimistisch, dass die Verantwortlichen in Politik und System aus dieser Krise die richtigen Lehren ziehen werden?

de Ridder: Optimismus? Zu früh. Hoffnung? Ja. In diesen Corona-Zeiten ist oft von „Systemrelevanz“ die Rede und davon, was oder wer systemrelevant ist. Dass auch Kranken- und Altenpflegekräfte sowie Supermarktkassierer und -kassiererinnen tatsächlich systemrelevant sind, sollte nun allen, insbesondere Politikern, klar geworden sein. Selbiges immer aufs Neue rhetorisch zu benennen, ja, wie kürzlich im Bundestag und auf den Balkonen der Großstädte mit Beifall zu würdigen, ist eine schöne Geste – nicht mehr und nicht weniger. Anerkennung muss von Dauer sein und muss sich auch materiell widerspiegeln: Also hoffe ich kurzfristig auf ein kräftiges Gehalts- bzw. Lohnplus für diese Berufsgruppen. Über die Medizin hinaus birgt Corona für mich eine weitere Aufforderung.

Welche?

de Ridder: Über die Priorisierung persönlicher und gesellschaftliche Werte und Desiderate, Komponenten von dem, was wir Lebenszufriedenheit nennen, neu nachzudenken: zur Besinnung kommen und im Interesse aller nach einer neuen, besseren Ordnung suchen – Triage eben. Eine gewaltige Herausforderung. Corona kann vielleicht zu einem Impulsgeber werden; sie anzunehmen und nach neuen Antworten auf vermeintlich alte Fragen zu suchen wäre schon ein großer Gewinn, und die Corona-Erfahrung wäre, wenn das Virus irgendwann seine Macht verloren haben sollte, nicht folgenlos verpufft.

Archivaufnahme: Übung einer großen Katastrophenlage in Wiesbaden, Oktober 2014. Die dargestellten Opfer sind Freiwillige. © iStock.com, ollo

Ersteinschätzung, Triage und das Manchester-Triage-System
Strukturierte Triage-Instrumente werden außer im Katastrophenfall auch in der regulären Medizin in Notaufnahmen eingesetzt, hier auch als Ersteinschätzung bezeichnet. Obwohl die Ersteinschätzung eigentlich als Spezialfall der Triage angesehen werden könnte, unterscheidet sie sich von ihr in einem wesentlichen Punkt: Im außerklinischen Bereich gilt es, die lokal oder temporal limitiert verfügbaren Ressourcen möglichst effizient einzusetzen, d. h. das Ziel möglichst vieler Überlebender zu erreichen. Im klinischen Bereich ist die Grundannahme aber, dass ausreichende Ressourcen zur Verfügung stehen, um alle Patienten optimal zu behandeln. Dadurch gibt es keinen Konflikt zwischen individuellem und Gesamtnutzen. In deutschsprachigen Notaufnahmen hat sich das Manchester-Triage-System durchgesetzt, das symptombasierte, schnelle, verlässliche und reproduzierbare Entscheidungen nach einem Punktesystem ermöglicht. Durch die strukturierte Vorgehensweise ist zu erwarten, dass schwer erkrankte Notfallpatienten zeitnah erkannt werden und umgehend die notwendige Diagnostik und Therapie erhalten.

Zur Person
Dr. Michael de Ridder war viele Jahre im ärztlichen Beruf tätig. Zuletzt arbeitete er als Chefarzt der Rettungsstelle eines Berliner Krankenhauses und als Geschäftsführer des von ihm mitbegründeten Vivantes Hospiz. Als Vorsitzender einer Stiftung für Palliativmedizin befasst er sich seit vielen Jahren kritisch mit dem Fortschritt in der Medizin, ein von ihm veröffentlichtes Buch trägt den Titel „Welche Medizin wollen wir?“