Prof. Alena Buyx: „Kein Automatismus von wissenschaftlichen Daten zur politischen Entscheidung“

Nachgefragt bei Prof. Alena Buyx, Medizinethikerin

 

Der ethische Kernkonflikt der Coronakrise besteht für den Rat darin, dass ein dauerhaft hochwertiges, leistungsfähiges Gesundheitssystem gesichert werden muss und zugleich schwerwiegende Nebenfolgen für Bevölkerung und Gesellschaft möglichst gering zu halten sind. Wie ist dieser Konflikt zu lösen?

Buyx: Der Konflikt kann letztlich nicht befriedigend gelöst werden. Es kann nur eine bestmögliche Balance gefunden werden. Dazu haben wir in der Empfehlung einige Anmerkungen gemacht. Wichtig ist etwa: Je länger die Maßnahmen andauern und je gravierender die Folgen werden, desto stärker müssen die Interessen von denjenigen, die von den Folgen betroffen sind, berücksichtigt werden. Anders ausgedrückt: Je länger das andauert, desto dringlicher wird die Verpflichtung, zu prüfen, ob, wann und wie die Maßnahmen wieder aufgehoben werden können.

Eine Exit-Strategie?

„Wir nennen es nicht Exit-, sondern Renormalisierungsstrategie. Bei dem Wort Exit bestehen unschöne Konnotationen“, sagt Alena Buyx. © iStock.com, Elena Nelyubina

Buyx: Wir nennen es nicht Exit-, sondern Renormalisierungsstrategie. Bei dem Wort Exit bestehen unschöne Konnotationen, in der Medizinethik denken dabei manche an den Tod – Exit, Exitus. Renormalisierungsstrategie trifft es viel besser. Exit bedeutet ja Ausgang. Wir weisen aber ausdrücklich darauf hin, dass wir ganz sicher nicht einfach zum Status quo von vorher zurückkehren werden können. Im Moment ist davon auszugehen, dass nach dem sogenannten Hammer, den wir jetzt machen, der Tanz vollzogen wird. Das bedeutet, einzelne aktuelle Restriktionen schrittweise zurückzufahren, andere einzuführen usw. Dieser Prozess sollte von weiteren Maßnahmen flankiert werden, die wir in unserer Empfehlung nennen.

Zum Beispiel?

Buyx: Stärker zu testen und auch bei den Antikörpertests zur Immunität, die bald zum Einsatz kommen sollen, die Kapazitäten hochzufahren. Vor allem wollen wir aber mit der Empfehlung darauf hinweisen, dass es um einen echten ethisch-gesellschaftlichen Konflikt geht.

Das bedeutet?

Buyx: Dass es keinen vorgezeichneten Plan gibt, nur in die eine Richtung. Dass wir nicht auf unbegrenzte Zeit im absoluten Sinn alles tun können, um die Pandemie zurückzudrängen, ohne Rücksicht auf die Effekte. Es gibt zwei Seiten dieser Medaille.

Werden diese denn überhaupt wahrgenommen?

Buyx: Da geht es um den Zeitpunkt. Gegenwärtig hält der Ethikrat die aktuellen Maßnahmen für berechtigt und die Schäden für zumutbar. Und dabei muss man sich klar machen: Menschen verlieren im Moment ihre Existenz, wir gehen von steigenden Selbstmordraten aus, es gibt Patienten, die gegenwärtig nicht richtig medizinisch versorgt werden können, auch die Gewalt in den Familien kann zunehmen. Dennoch sagen wir, dass das im Augenblick zumutbar ist – aber nicht unbegrenzt und nicht ohne regelmäßige Prüfung, was zurückgenommen werden kann.

Der Rat warnt davor, allein den einzelnen Ärzten die Verantwortung aufzubürden, in Situationen katastrophaler Knappheit medizinischer Ressourcen über Leben und Tod zu entscheiden. Wie kann das verhindert werden?

„Wir können nicht auf unbegrenzte Zeit im absoluten Sinn alles tun, um die Pandemie zurückzudrängen, ohne Rücksicht auf die Effekte“, meint Alena Buyx. © iStock.com, CasarsaGuru

Buyx: Zunächst ist festzuhalten, dass der Staat in dieser Hinsicht keine Maßgaben vorgeben kann. Das ist ganz wichtig. Der Staat darf menschliches Leben nicht bewerten und festlegen, wer eine Behandlung bekommt und wer nicht. Aber wenn solche Entscheidungen anstehen – was wir alle nicht hoffen – dann sollten sie nach transparenten, nachvollziehbaren und auch breit geteilten Kriterien erfolgen. Das sollte nicht auf den Schultern einzelner Ärztinnen und Ärzte lasten. Es wäre fürchterlich, als einzelne Person ohne jegliche Empfehlung und Unterstützung solche Entscheidungen treffen zu müssen. Der Ethikrat weist daher auch auf die aktuell veröffentlichten Empfehlungen der Fachgesellschaften hin, die für solche Situationen Kriterien entwickelt haben.

Was halten Sie von den Empfehlungen?

Buyx: Ich halte sie für hilfreich. Zu einem so schwierigen Thema in solch kurzer Zeit konsentierte Empfehlungen herauszugeben, ist jedenfalls eine beeindruckende Leistung. Bereits jetzt wird an vielen Häusern geschaut, wie diese Empfehlung in der Praxis umzusetzen ist. Das Gesundheitssystem bereitet sich vor.

Die Coronakrise ist die Stunde der demokratisch legitimierten Politik, heißt es in Ihrer Empfehlung. Besteht nicht eher die Gefahr, dass politische Entscheidungen an die Wissenschaft delegiert und von ihr eindeutige Handlungsanweisungen für das politische System verlangt werden?

Buyx: Genau das ist der Grund, warum wir das so eindringlich geschrieben haben. Wie es andere, etwa unser Vorsitzender Peter Dabrock, schon vor mir formuliert haben: Politik muss auf Wissenschaft hören, aber sie darf ihr nicht hörig sein. Natürlich muss die Wissenschaft die Politik gerade jetzt sehr intensiv beraten. Die Entscheidungsfindung über die angesprochene Balance kann allerdings nicht von der Wissenschaft vorgegeben werden. Sie kann das ethisch-politische Dilemma nicht lösen. Die Wissenschaft ist von vitaler Wichtigkeit, denn ohne die bestmöglichen Daten kann im Moment nicht entschieden werden. Das hat evidenzbasiert zu passieren. Aber es existiert eben kein Automatismus von den wissenschaftlichen Daten hin zu einer politischen Entscheidung – die Politik muss entscheiden.

Zur Person:
Prof. Alena Buyx ist Ärztin mit weiteren Abschlüssen in Philosophie und Soziologie. An der Technischen Universität München hat sie eine Professur für Ethik der Medizin und Gesundheitstechnologien. Buyx ist Mitglied im Deutschen Ethikrat, zuvor war sie unter anderem stellvertretende Direktorin des englischen Ethikrats und Senior Fellow am University College London.