Prof. Jonas Schreyögg: „Die Krise hat uns zu einer ungünstigen Zeit getroffen“

Nachgefragt bei Prof. Jonas Schreyögg, Gesundheitsökonom

 

Mit Krankenhäusern und Betten ist Deutschland überversorgt, lautete die einhellige Analyse vor dem Ausbruch der Pandemie. Erscheint diese Erkenntnis gegenwärtig in einem anderen Licht?

Prof. Jonas Schreyögg: Generell ist klar, dass wir im internationalen Vergleich viel zu viele Fälle stationär behandeln, die ambulant behandelt werden könnten. Andere Länder sind in Sachen Ambulantisierung deutlich weiter. Dadurch haben wir nicht nur sehr viele nicht bedarfsnotwendige Krankenhäuser und Betten, sondern auch das Problem, dass das vorhandene pflegerische und medizinische Personal auf zu viele Krankenhäuser verteilt wird. Diese generelle strukturelle Problematik kommt auch in der aktuellen Krise zum Ausdruck.

Inwiefern?

Schreyögg: Von den 1.600 allgemeinen Krankenhäusern haben sich bisher 700 in das bundesweite Intensivregister eingetragen. Es wird sich zeigen, wie viele von diesen Krankenhäusern am Ende auch Patienten zur Beatmung aufnehmen können. Viele Krankenhäuser, die Beatmungskapazitäten haben, sagen, dass sie zu wenig Personal haben, denn das vorhandene Personal teilt sich eben in Deutschland auf ganz viele Kliniken auf – darunter viele Kliniken, die nicht für die Behandlung von Covid-19-Patienten ausgestattet sind. Hinzu kommt das Problem, dass im Intensivbereich ohnehin seit Jahren das Personal sehr knapp ist und viele Stellen nicht besetzt werden können.

Generell gefragt: Wie viele Ressourcen sollte sich eine Gesellschaft für den Ernstfall im Gesundheitswesen leisten? Den Begriff Vorhaltekosten für Intensivmedizin kennt man ja vor allem von den Unikliniken.

Schreyögg: In der aktuellen Krise hat die Gesundheitspolitik das beste aus der Situation gemacht. Man sollte aber tatsächlich für künftige Krisen im Hintergrund Ressourcen bereithalten, die dann innerhalb kürzester Zeit aktiviert werden können. Hierfür müssen nicht mehr Intensivbetten vorgehalten werden, aber es erscheint sinnvoll, eine substanzielle Menge an Beatmungsgeräten und Schutzmaterial zu bevorraten. Insgesamt hat uns aber diese Krise zu einer ungünstigen Zeit getroffen. Wir waren in Deutschland gerade dabei, im Krankenhaus und generell im Gesundheitswesen viele überfällige Strukturreformen anzugehen, darunter eine Umwandlung nicht bedarfsnotwendiger Krankenhäuser, eine Verbesserung der Personalsituation in bedarfsnotwendigen Krankenhäusern, eine Reform der sektorenübergreifenden Vergütung und vor allem die Implementierung der Digitalisierung im Gesundheitswesen. In fünf bis zehn Jahren hätte uns diese Krise in dieser Hinsicht mit geeigneteren Strukturen getroffen und weniger Rüstkosten für eine kurzfristige Vorbereitung erfordert. Daher hat uns diese Krise aufgezeigt, wie wichtig ein konsequentes Vorantreiben der Strukturreformen ist.  

Für wie belastbar halten Sie das unbegrenzte Liquiditätsversprechen von Bund und GKV für die Krankenhäuser?

Schreyögg: Ich halte dieses Versprechen für sehr belastbar, denn niemand wird in der aktuellen Krise einen Konkurs eines bedarfsnotwendigen Krankenhauses in Kauf nehmen. Vielmehr erscheint es mir wichtig, dass vor allem solche Krankenhäuser von den Finanzierungspaketen profitieren, die auch im Kern zur Bewältigung der Krise beitragen. Dabei stehen natürlich die Universitätsklinken und Maximalversorger im Zentrum des Geschehens. Dort hat man in der Regel am meisten Expertise, um auch Covid-19 Patienten mit schweren Verläufen zu behandeln.

Zur Person
Prof. Jonas Schreyögg ist seit 2011 wissenschaftlicher Direktor des Hamburg Center for Health Economics, Universität Hamburg. Er ist Mitglied des Sachverständigenrats zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen und im Aufsichtsrat des Universitätsklinikums Greifswald. Von 2015 bis 2017 arbeitete er in der Expertenkommission „Pflegepersonal im Krankenhaus“ beim Bundesministerium für Gesundheit.