Debatte über Reformbedarf beim AMNOG-Verfahren
Berlin (pag) – „Durchbruch in der Forschung – auch in der Finanzierung?“ Diese Fragestellung diskutieren Industrie-, Kassen- und Patientenvertreter mit Wissenschaftlern auf einem Panel des Hauptstadtkongresses (HSK). Bei der Veranstaltung steht der Weiterentwicklungsbedarf beim AMNOG-Prozess im Mittelpunkt, denn „nach der Reform ist immer vor der Reform“, betont Moderator Prof. Wolfgang Greiner, Universität Bielefeld, mit Blick auf das jüngst in Kraft getretene GKV-Arzneimittelversorgungsstärkungsgesetz (AM-VSG).
Im Fokus stehen unter anderem Arzneimittel mit Zusatznutzen, die in dem Verfahren mit einer niedrig-preisigen zweckmäßigen Vergleichstherapie (ZVT) konfrontiert sind. Diesem Problem widmet sich Prof. Bertram Häussler, Vorsitzender der Geschäftsführung des IGES-Instituts, in seinem Impulsvortrag zum Dilemma von Innovation versus Bezahlbarkeit. Basierend auf seinen Ausführungen zur Kalkulation von Arzneimittelpreisen stellt er mit Blick auf das AMNOG-Verfahren die Kernfrage: „Welchen Aufschlag benötigt man für einen ‚break even‘ bzw. ein nachhaltiges Geschäfts modell?“ Bei Arzneimitteln mit Zusatznutzen und niedriger ZVT müsse man das 100-fache der Vergleichstherapie verlangen dürfen, sagt Häussler. Das aber führe im Alltagsverständnis zu ganz großen Problemen. IGES-Untersuchungen zufolge kommt es zu signifikanten Preisaufschlägen – bis hin zum 19-fachen – nur beim mittleren Preissegment, „aber das passiert im unteren Preissegment eben nicht“, konstatiert Häussler. Dort sei ein 5-facher Aufschlag das Maximum, insbesondere bei kleinen Patientenpopulationen könne das zu wenig sein, um den „break even“ zu erreichen. Gerade angesichts der Eilentscheidung des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg sieht der Experte eindeutigen Reformbedarf (Anm. d. Red.: eine Woche nach der Veranstaltung hat das LSG die dazugehörige Hauptsache entschieden, siehe Infokasten).
Nachrangiges Problem in der Praxis?
Das von Dr. Matthias Suermondt, Sanofi-Vizepräsident Gesundheit und Marktzugang, vorgestellte neue Neurodermitis-Präparat Dupilumab dürfte in die von Häussler beschriebene Problemkonstellation fallen:
Es trage den Status einer „breakthrough“ Innovation, da es in hohem Maße die schweren Symptome der chronischen Hautkrankheit verbessere. Suermondt betont, dass der quälende Juckreiz sehr schnell reduziert werde. Er weist außerdem darauf hin, dass es in dem Therapiefeld zwanzig Jahre keine Innovation gegeben habe, die Vergleichstherapie in der frühen Nutzenbewertung sei folglich generisch.
Allerdings sieht Dr. Antje Haas, Leiterin der Abteilung Arznei- und Heilmittel beim GKV-Spitzenverband, das von Häussler beschriebene Problem in der Praxis als „ganz nachrangig“ an. Schwierig gestalten sich nach ihrer Einschätzung eher die Preisverhandlungen, wenn es eine generische ZVT und keinen Zusatznutzen beim neuen Präparat gebe. Bei den chronischen Erkrankungen, zu denen Neurodermitis zählt, sieht sie das Hauptproblem nicht in den generischen zweckmäßigen Vergleichstherapien, sondern in dem Übergang von Surrogatparametern in symptomarme Manifestationsphasen hin zu patientenrelevanten Endpunkten. „Deutschland hat sich entschieden, über patientenrelevante Endpunkte zu gehen, das macht es bei chronischen Erkrankungen etwas schwieriger, die Dinge zu messen“, sagt Haas.
Aus Sicht der Industrie hebt Suermondt hervor, dass man gelernt habe, diese Endpunkte in den Studien zu berücksichtigen. Allerdings äußert er Zweifel daran, ob sie auch im Verfahren der Nutzenbewertung immer konsequent mitgedacht werden – er verweist auf das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, das beispielsweise in dem Wechsel von Spritze auf orale Darreichungsform für MS-Patienten keinen Zusatznutzen erkenne.
Die Patienten- und Gesellschaftsperspektive
Von den enormen Belastungen durch Neurodermitis für die Betroffenen im Alltag berichtet Dr. Silvia Pleschka auf der Veranstaltung. „Wenn Kinder erkrankt sind, leidet die ganze Familie“, sagt die wissenschaftliche Mitarbeiterin des Deutschen Allergie- und Asthmabundes. Die Patienten müssten zudem die Basisversorgung selbst bezahlen; viele hätten das Gefühl, keine innovative Behandlung zu bekommen. Den gesellschaftlichen Blickwinkel bringt Dr. Dennis A. Ostwald in das Panel ein, der über Social Impact Studien referiert. Deren erkenntnisleitende Fragestellung laute: „Was macht Gesundheitswirtschaft für den einzelnen Patienten und für die Gesellschaft?“ Der Gründer und Geschäftsführer der WifOR GmbH zeigt sich davon überzeugt, dass solche Studien zukünftig den politischen Dialog bereichern könnten, AMNOG-fit seien die Modelle allerdings noch nicht.
Mehr über die Hintergründe unter www.gerechte-gesundheit.de/news/detail/news-detail/2341.html
LSG MAHNT GESETZLICHE REGELUNG ZUR MISCHPREISBILDUNG AN
Das Landessozialgericht (LSG) Berlin-Brandenburg verlangt vom Gesetzgeber eine Regelung zur Mischpreisbildung. Es sieht „erhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der praktizierten Mischpreisbildung“, weil der Mischpreis keine nutzenadäquate Vergütung darstelle und er keine Grundlage im Gesetz finde. Dringend notwendig sei daher eine gesetzliche Regelung, die die Mischpreisbildung in einem Fall wie bei Albiglutid zulasse, zumindest aber eine Übereinkunft in der Rahmenvereinbarung, so das Gericht weiter. „Der Mischpreis ist nicht tot aber behandlungsbedürftig“, reagiert Prof. Jürgen Wasem,
Vorsitzender der Schiedsstelle
nach § 130b SGB V, auf das LSG-Urteil. Dr. Hermann Kortland, stellvertretender Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes der Arzneimittel-Hersteller (BAH), verlangt: „Der Gesetzgeber sollte nicht warten, bis möglicherweise das Bundessozialgericht eine Entscheidung trifft, sondern in der neuen Legislaturperiode eine Lösung anstreben.“ Das Urteil verunsichere alle Beteiligten. Es bestehe die Gefahr, dass Ärzte
innovative Arzneimittel aus Angst vor Regressen nicht mehr verordnen.
Martin Litsch, Vorstandsvorsitzender des AOK-Bundesverbandes, wertet dagegen das Urteil als „klares Zeichen an Pharmafirmen und Ärzte“. Es gebe keinen Freibrief für neue Arzneimittel. Auch wenn diese einen Zusatznutzen in Teilbereichen hätten, seien sie nicht generell wirtschaftlich. „Das entscheidet sich erst bei der konkreten Verordnung“, sagt Litsch. Anlass des Verfahrens ist das Mittel Albiglutid, gegen den von der Schiedsstelle festgesetzten Erstattungsbetrag hatte der GKV-Spitzenverband geklagt. Das LSG hat der Klage stattgegeben.