Im Gespräch

„Das Ein-Tresen-Prinzip ist absolut notwendig“

Prof. Ferdinand M. Gerlach über Reformpläne zur Notfallversorgung

Berlin (pag) – Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen hat ein umfassendes Konzept zur Reform der Notfallversorgung vorgestellt. Diese soll „bürgernäher, bedarfsgerechter, qualitativ besser und kosteneffektiver“ sein als bisher, sagt Prof. Ferdinand M. Gerlach, als er die Vorschläge auf einem Werkstattgespräch der Fachöffentlichkeit präsentiert. Der Vorsitzende des Rates zeigt sich vorsichtig optimistisch, dass „uns das gelingen kann und wird“. Im Interview erklärt er seinen Optimismus und was man von Rohrkrepierern lernen kann.

Prof. Dr. Ferdinand Gerlach, Direktor des Instituts für Allgemeinmedizin der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt/Main © pag, Fiolka

Um die Notfallversorgung werden erbitterte Verteilungskämpfe an der Schnittstelle zwischen ambulant und stationär geführt. Auf dem Werkstattgespräch haben Sie sich optimistisch gezeigt, dass eine Reform gelingen kann. Woher nehmen Sie Ihre Zuversicht?

Gerlach: Bei der Analyse der aktuellen Situation – überfüllte Notaufnahmen, zu lange Wartezeiten, Über-, Unter- und Fehlversorgung nebeneinander – stimmen alle weitgehend überein. Damit meine ich Ärzte, Kassen, Krankenhäuser, aber auch Patienten. Insbesondere die medizinischen Profis, die in der Notfallversorgung an der Front sind, berichten übereinstimmend über Probleme, Defizite und über eine Verschärfung der Situation. In unserem Gesundheitssystem verändert sich häufig erst dann etwas, wenn sich ein gewisser Druck aufgebaut hat. Den gibt es jetzt.

Aber es existieren unterschiedlicheVorstellungen dazu, in welche Richtung die Veränderungen gehen sollen.

Gerlach: Dass es mehr Koordinationund Zusammenarbeit zwischen den Beteiligten geben muss, mehr Steuerung, Triage und qualifizierte Ersteinschätzung, dazu gibt es kaum Widerspruch. Bis zu dem Punkt folgen alle. Erst bei der Umsetzung gibt es Differenzen.

Zum Beispiel?

Gerlach: Unser Vorschlag, integrierte Leitstellen zu schaffen, ist offenbar mehr oder weniger Konsens. Es gibt eine Diskussion darüber, ob man das über eine Rufnummer machen muss oder über mehrere. Das ist aber letztlich eine technische Frage.

Wichtiger ist, was in der Leitstelle passieren soll.

Gerlach: Momentan sitzen in vielen Einzelleitstellen Feuerwehrbeamte, ärztliche Expertise fehlt dort. Unser Konzept sieht größere Leitstellen vor, in denen ärztlicher Bereitschaftsdienst und Rettungsdienst zusammenarbeiten. Bei Bedarf können auch Ärzte die Beratung von Patienten direkt am Telefon übernehmen, es findet eine qualifizierte Ersteinschätzung nach Algorithmenund Leitlinien statt. Schließlich kann man am Anfang nicht wissen, was hinter akuten Kopfschmerzen steckt. Um gut zu beraten, schnell zu entscheiden und die richtigen Maßnahmen einzuleiten, braucht man eine qualifizierte Ersteinschätzung. Soweit sind sich alle einig.

Und wo gibt es Kontroversen?

Gerlach: Bei der Umsetzung. Zum Beispiel erwarten wir, dass sich die Rettungsleitstellen, die wir zurzeit in jedem Landkreis haben und die von Innenministerien und von den Landkreisen finanziert werden, nicht so einfach integrieren lassen werden. Außerdem bleibt fraglich: Wie sollen die Kosten verteilt werden? Mut macht uns aber, dass man dafür in Baden-Württemberg bereits eine Lösung gefunden hat. Dort gibt es Verträge zwischen dem Innenminis-terium bzw. den Trägerorganisa-tionen DRK und Feuerwehr auf der einen Seite und der KV sowie den Krankenkassen auf der anderen Seite. Investitionskosten werden im Wesentlichen aus Steuermitteln und Betriebskosten über Leitstellenvermittlungsentgelte – für das Rettungswesen von den Krankenkassen, für die Vermittlung des vertragsärztlichen Bereitschaftsdienstes durch die KV – bestritten.

Eine noch schärfere Kontroverse dürften die Integrierten Notfallzentren (INZ) heraufbeschwören – so ist der Eindruck auf dem Werkstattgespräch des Rates.

Gerlach: Das Ein-Tresen-Prinzip, also alle gehen durch den gleichen Eingang und werden an der identischen Stelle ersteingeschätzt, ist absolut notwendig. Das sehen auch alle ein. Die Frage, wie das organisiert werden soll, wird wiederum kontrovers diskutiert.

Prof. Dr. Ferdinand Gerlach © pag, Fiolka

Wie stellt sich der Rat die Organisation denn vor?

Gerlach: Das Notfallzentrum sollte eine eigene wirtschaftlich-organisatorische Einheit bilden. Es soll organisatorisch aus dem Krankenhaus herausgelöst werden, örtlich gesehen bleibt es dort. Vielfach wären nur kleinere Umbauten für den Eingang und Tresen notwendig. Wir stellen uns eine gemeinsame Trägerschaft von KV und Krankenhaus vor, aber die Betreiberfunktion, insbesondere des zentralen Tresens, an dem die Triage stattfindet, sollte allein der KV obliegen.

Warum?

Gerlach: Die Kliniken haben zu starke Interessenskonflikte, vor allem weil sie über die Notaufnahmen Patienten auf ihre Statio-nen bekommen. Das betrifft in Deutschland fast 50 Prozent der Patienten in der Notaufnahme. In welchem Umfang dieser Anteil gerechtfertigt ist oder nicht, ist schwer abzuschätzen, zumindest im internationalen Vergleich ist die Aufnahmequote viel zu hoch. Das sieht man auch daran, dass viele Patienten als Kurzlieger bzw. Ein-Tages-Fälle laufen. Dabei handelt es sich um einen Fehlanreiz für die Kliniken, den man ihnen allerdings kaum vorwerfen kann. Die statio-näre Aufnahme ermöglicht eine ganz andere Refinanzierung der Leistungen, die aus medizinischen Gründen durchaus sinnvoll sein können, beispielsweise ein Spiral-CT bei Verdacht auf Lungenembolie. Die Kliniken nehmen die Patienten stationär auf und rechnen das über eine DRG ab.

Halten Sie trotz der deutlichen Kritik an der Organisationsstruktur der INZ an Ihrem Konzept fest? Moniert wird insbesondere, dass man damit einen dritten Sektor schafft.

Gerlach: Auf dem Werkstattgespräch haben wir unseren ersten Aufschlag vorgestellt. Feinjustierung folgt. Man kann über die konkrete Ausgestaltung der Träger- und Betreiberfunktion diskutieren. Grundsätzlich sollte jedoch bedacht werden: Wenn wir in den alten Sektoren bleiben und so weitermachen wie bisher, kommen wir auch nicht weiter. Wenn wir neue sektorenübergreifende Versorgungsformen entwickeln wollen, müssen wir aus den Schützengräben heraus und Mauern einreißen. Dann brauchen wir gemeinsame regulatorische Rahmenbedingungen, eine gemeinsame Honorierung und dann könnte es sich um den Prototypen einer zukünftigen sektorenübergreifenden Versorgung handeln.

Impulse für eine sektorenübergreifende Versorgung sollte auch die Ambulante Spezialfachärztliche Versorgung, kurz ASV, liefern. Kein Beispiel, das Mut macht, oder?

Gerlach: Das ist, kurz gesagt, leider ein Rohrkrepierer.

Was wollen Sie besser machen?

Gerlach: Wir müssen aus den Fehlern, die bei der ASV gemacht wurden, lernen. Das Problem ist hier, dass die Kassen Leistungsausweitungen befürchten und sektoregois-tische Motive der Beteiligten dazu führen den Versorgungsbereich so klein wie möglich zu schrumpfen – ängstlich begrenzt auf ganz spezielle Erkrankungen, die nur wenige Menschen betreffen, mit hohen, bürokratisch überfrachteten Anforderungen und unattraktiver Hono-rierung. Man hat fast alles dafür getan, dass es nicht funktioniert.

Was wären Alternativen gewesen?

Gerlach: Damit es keine Leistungsausweitung gibt, haben wir in unserem letzten Gutachten vorgeschlagen, den Bereich einerseits gezielt auszuweiten und andererseits komplett selektivvertraglichen Regelungen zu unterstellen. Dann hätten die Vertragspartner Mengen, Preise und Qualität definieren können. Das hätte eine ganz andere Dynamik erzeugt. Die Angst der Krankenkassen vor der Leistungsausweitung wäre genommen.

Zurück zur Notfallversorgung und der Frage nach der Patientensteuerung. Sie hoffen auf einen edukativen Prozess. Ist das Thema Selbstbeteiligung vom Tisch? Wäre ein solches Instrument für die Lenkung nicht doch sachgerecht?

Gerlach: Noch können wir uns nicht für eine Selbstbeteiligung erwärmen. Vorher initiieren wir lieber einen auf Freiwilligkeit basierenden multimedialen Prozess mit mehrsprachigen Patienteninformationen, Apps, Plattformen und Social-Media-Aktivitäten. Denkbar wäre zum Beispiel ein 30-Sekunden-Spot vor der Tagesschau, in dem erklärt wird, wo man bei einem Notfall anruft und wie einem geholfen wird. Das müsste so lange wiederholt werden, bis jeder die Nummer kennt und die Prozesse versteht. Integrierte, auch mit Ärzten besetzte Telefonleitstellen sollen Patienten anhand IT-gestützter Versorgungspfade je nach Schwere-grad und Dringlichkeit gezielt in bedarfsgerechte Strukturen steuern. So kann die Leitstelle direkt einen individuellen Termin in einem konkreten Integrierten Notfallzentrum vergeben. Patienten, die durch Selbstüberweisung ohne vorherige telefonische Abklärung kommen und bei denen im Rahmen der orientierenden Eingangsuntersuchung keine Dringlichkeit festgestellt wird, müssen ggf. längere Wartezeiten in Kauf nehmen. Sollte das alles nicht funktionieren, könnte man über eine Selbstbeteiligung nachdenken. In Deutschland gibt es eine extrem geringe Selbstbeteiligung im Vergleich zu anderen Ländern in Europa. Diese Form der Steuerung nutzen wir bislang kaum.

Warum tut sich Deutschland insgesamt mit der Notfallversorgung so schwer? In anderen Ländern klappt es offenbar besser.

Gerlach: Dafür gibt es mehrere Gründe. Erstens haben wir mit den Notaufnahmen der Kliniken, dem ambulanten Bereitschaftsdienst und dem Rettungsdienst drei komplett voneinander getrennte Sektoren. Der Rettungsdienst hat sogar mit der Gesetzlichen Krankenversicherung gar nichts zu tun. Auch das wollen wir übrigens ändern. Alle drei haben ihre eigenen Rahmenbedingungen, eigene Honorierung, Dokumentation sowie Qualitätssicherung. Hinzu kommt als zweites die insbesondere den Rettungsdienst prägende Kleinstaaterei: Jeder Landkreis hat eine eigene Leitstelle. Dort werden auf unterschiedlichen Wegen beispielsweise das Rote Kreuz mit dem Rettungsdienst beauftragt, wo wiederum der Landrat im Vorstand sitzt. Es gibt also viele lokale – teilweise sogar vorteilhafte – Besonderheiten, die aber letztlich den Gesamtprozess verlangsamen. Und außerdem sitzen die Player, speziell Kassenärzte und Krankenhäuser, in ihren Gräben und haben bisher keinen überzeugenden Weg gefunden, wirklich miteinander zu kooperieren.

Minister Gröhe hat bei dem Werkstattgespräch die Beteiligten zur Kooperation aufgerufen.

Gerlach: Zu Recht. Dass es damit bisher noch nicht geklappt hat, kann man den Akteuren allerdings nicht einmal unbedingt vorwerfen, weil die Rahmenbedingungen schlicht zu unterschiedlich sind. Wir müssen Planung, Organisation und Finanzierung sektorenübergreifend annähern, erst dann kann es eine wirklich sektorenübergreifende Zusammenarbeit geben. Momentan ist echte Kooperation selbst bei bestem Willen kaum möglich.

Die Gutachten des SVR haben eine lange Tradition. Wie schätzen Sie deren Praxisrelevanz ein? Gerade die vor Jahren konstatierte Über-, Unter- und Fehlversorgung wurde oft zitiert, aber den Befund könnte man heute noch genauso stellen.

Prof. Dr. Ferdinand Gerlach im Gespräch mit der GG-Chefredakteurin Antje Hoppe © pag, Fiolka

Gerlach: Man kann ihn stellen, aber anders. Über-, Unter- und Fehlversorgung wird es immer geben. Wir werden niemals einen stabilen Idealzustand erreichen, wo alles 100-prozentig passt. Das geht allein schon deshalb nicht, weil es ganz unterschiedliche Perspektiven gibt. Zur Praxisrelevanz der Empfehlungen: Anlässlich unseres 30-jährigen Jubiläums hat kürzlich Prof. Wille eine Übersicht aller zentralen Empfehlungen des Rates erstellt. Danach wurde ungefähr die Hälfte von ihnen umgesetzt.

Das ist eine erstaunlich gute Quote.

Gerlach: Finden wir auch. Allerdings kann die Umsetzung manchmal fünf bis zehn Jahre dauern. Aber wir sind heute schon wesentlich weiter als vor 20, 30 Jahren. Das muss man auch im Vergleich sehen und gleichzeitig werden das Gesundheitssystem und die Welt ja immer komplexer. Wenn Sie allein an die Digitalisierung denken, an den demografischen Wandel, an Angebotsstrukturen, die sich enorm entwickelt haben, oder an finanzielle und technische Möglichkeiten, die wir uns früher gar nicht vorstellen konnten. Da kann es nicht einen Stand geben, den man als Ideal erreicht und der bestehen bleibt. Das ändert sich jeden Tag. Insofern ist das eine Daueraufgabe.

Wie hat sich durch die Ratsmitgliedschaft Ihr Blick auf das Gesundheitswesen verändert?

Gerlach: Es ist ein Privileg, dass man sich in einer so hochkarätigen Runde losgelöst von der Tagespoli-tik wirklich fundamental mit dem Versorgungssystem beschäftigen kann. Das Gesundheitswesen ist extrem breit, und es gibt niemanden, der wirklich alle Winkel und Facetten überblickt. Aber mit der Zeit bekommt man ein immer besseres Verständnis dafür, wie die informellen Spielregeln funktionieren, wo Veränderungspotenzial besteht und wo nicht. Natürlich würde ich mir manchmal wünschen, dass Reformen schneller umgesetzt werden, aber auf der anderen Seite weiß ich auch, dass wir dicke Bretter bohren. Da muss man geduldig bleiben.

ZUR PERSON Prof. Ferdinand M. Gerlach ist seit 2012 Vorsitzender des Sachverständigenrats zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen. Dem Gremium gehört er bereits seit 2007 an, von 2011 bis 2012 war er dessen stellvertretender Vorsitzender. Seit 13 Jahren ist Gerlach Direktor des Instituts für Allgemeinmedizin an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. Von 2010 bis 2016 war er Präsident der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM). Der Facharzt für Allgemeinmedizin hat zudem Public Health studiert und als niedergelassener Arzt in Bremen, Kiel und Frankfurt gearbeitet.