Im Fokus

Wenn Gesundheitspolitik zu Voodoo-Politik wird

Presse-Club bilanziert: Minister im Glück, Journalisten im Dilemma

Berlin (pag) – Was ist von der künftigen Bundesregierung in der Gesundheitspolitik zu erwarten? Welche Aufgaben muss die nächste Koalition als erstes anpacken? Darüber diskutieren vier Hauptstadtredakteure beim Presse-Club des AOK-Bundesverbandes. Lesen Sie, warum Hermann Gröhe ein „Minister im Glück“ war und gesundheitspolitische Journalisten bei ihren Kollegen einen zweifelhaften Ruf genießen.

Einigkeit herrscht bei den Pressevertretern auf dem Podium, dass die Digitalisierung auf der gesundheitspolitischen Agenda ganz nach oben gehört. „Zwischen der Wirklichkeit und dem, was im Gesundheitssystem passiert, liegen Welten“, kritisiert Timot Szent-Ivanyi von der DuMont Verlagsgruppe. Dringend überfällig sei beispielsweise eine Normierung der Schnittstellen, diese müsse notfalls per Ersatzvornahme durchgesetzt werden. Ansonsten werde man auf diesem Gebiet nicht weiterkommen.

von links: Andreas Mihm, Rebecca Beerheide, Timot Szent-Ivanyi, Gerhard Schröder und Lisa Braun © AOK-BV, Stefan Melchior

Am G-BA nicht die Finger verbrennen

Ein Thema, das es – im Unterschied zur Digitalisierung – kaum auf die Titelseiten der Publikumspresse schafft, hinter den Kulissen des Gesundheitswesens aber viele beschäftigt, ist die Legitimation des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA). Mehrere Gutachten dazu sind formuliert, wurden der Öffentlichkeit aber bisher nicht vorgestellt. Nach Auffassung von Gerhard Schröder, Deutschlandradio, wird die Regierung dieses Thema in der kommenden Legislatur nicht anpacken. „Die Gefahr, sich daran die Finger zu verbrennen, ist zu groß“, sagt er. Auch bei der Aufwertung von Gesundheitsberufen, vor allem der Pflege, befürchtet er Stillstand: „Alle wollen sie aufwerten, aber niemand will dafür bezahlen.“

Für Rebecca Beerheide, Deutsches Ärzteblatt, ist die Reform der Notfallversorgung ein Thema, das möglichst rasch angegangen werden sollte (lesen Sie hierzu auch „Tiefe Gräben, gefühlte Notfälle und Verteilungskämpfe“ in dieser Ausgabe). Andreas Mihm stellt insbesondere die Reformbedürftigkeit der Patientensteuerung – sowohl im ambulanten als auch im stationären Sektor – hervor. Soll weiterhin jeder zu jedem Arzt gehen dürfen? Dem Redakteur der Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) zufolge braucht es dringend neue Ideen und Mut von der Politik, um solche Reformen zu kommunizieren, – „daran scheitert es nämlich“.

Wenig Streit, wenig Schlagzeilen

Hermann Gröhe wird von den Journalisten vor allem als guter Verwalter und Moderator wahrgenommen, der allerdings größere Visionen nicht habe erkennen lassen. Er sei ein „Gesundheitsminister im Glück“ gewesen, weil das Geld gesprudelt habe, urteilt Schröder, deshalb seien alle Konflikte mit Geld befriedet worden.

Den Umstand, dass Gröhe den Koalitionsvertrag solide abgearbeitet hat, bewerten die Journalisten zwiespältig. Zwar habe er 25 Gesetze und viele Verordnungen auf den Weg gebracht, merkt Beerheide an, große Strukturreformen habe die schwarz-rote Koalition im Gesundheitswesen jedoch nicht zustande gebracht. Dafür macht sie allerdings auch die föderale Struktur, die den Ländern insbesondere im Krankenhauswesen großen Einfluss gewährt, verantwortlich. Mihm führt aus, dass der mangelnde Streit über die Themen des Koalitionsvertrags dazu geführt habe, dass diese wenig medial präsent gewesen seien.

Ein Thema auf dem Presse-Club ist auch die Schwierigkeit, über gesundheitspolitische Spezialthemen in Publikumsmedien zu berichten. „Es funktioniert, wenn man, wie etwa bei der Pflege, Menschen in den Mittelpunkt stellen kann“, sagt Schröder. Bei abstrakteren Problemen wie dem morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich winkten die Leute dagegen ab – „das ist für die Voodoo-Politik“. Man könne Gesundheitspolitik über Betroffenheit oder Streit aufziehen, sagt Szent-Ivanyi. Aufgrund der steigenden Komplexität werde die Berichterstattung darüber aber immer anspruchsvoller. Ein zweifelhafter Ruf in den Redaktionen und bewundernde bis mitleidige Blicke seien die Folge.

Neue Konstellationen in der Gesundheitspolitik

Rebecca Beerheide weist außerdem darauf hin, dass der Gesetzgeber viel Arbeit beim G-BA auslagert. „Alles nachzuhalten, was die Selbstverwaltung dann daraus gemacht hat, wird zunehmend schwieriger.“ Sie ist gespannt darauf, die FDP auf dem Bundesparkett wieder neu kennenzulernen, spannend würden auch neue Konstellationen in der Gesundheitspolitik: FDP und Grüne seien beispielsweise beim Versandhandel auf einer Linie. Dass es in der neuen Legislatur keine Bürgerversicherung geben wird, sieht Schröder als großes Problem für Bündnis 90/Die Grünen. „Das wird spannend, wie sie aus dieser Nummer wieder herauskommen.“ Kleine Bausteine zur Konvergenz der beiden Systeme erwartet jedoch Szent-Ivanyi. „Es werden nicht wieder vier Jahre vergehen, in denen gar nichts zur PKV passiert.“

Gesundheitspolitische Akteure neigen gelegentlich dazu, die Strahlkraft ihres Gebiets zu überschätzen. Insofern taugt die nüchterne Einschätzung von Andreas Mihm als passendes Schlusswort: „Gesundheitspolitik hat vor der Wahl keinen interessiert und auch niemanden danach. Das wird kein Stolperstein für Jamaika.“

DIE TEILNEHMER DES PRESSE-CLUBS

Nach dem Vorbild des kürzlich von Gerechte Gesundheit veranstalteten Presse-Clubs hat der AOK-Bundesverband im Oktober ebenfalls einen solchen veranstaltet. Die Teilnehmer:

  • Rebecca Beerheide leitet die politische Redaktion beim Deutschen Ärzteblatt. Beerheide studierte in Leipzig und Ljubljana Diplom-Journalistik und Politikwissenschaften.
  • Andreas Mihm ist Korrespondent der F.A.Z. in Berlin. Der Volkswirt schreibt über Gesundheits-, Wirtschafts- und Energiepolitik.
  • Gerhard Schröder, ebenfalls Volkswirt, ist Wirtschaftsredakteur beim Deutschlandradio. Die Schwerpunkte seiner Berichterstattung sind Renten-, Gesundheits- und Arbeitsmarktpolitik.
  • Timot Szent-Ivanyi ist Redakteur bei der DuMont Verlagsgruppe. Über Gesundheitspolitik schreibt er unter anderem für die Berliner Zeitung.
  • Moderiert wurde das Gespräch von Lisa Braun, Inhaberin der Presseagentur Gesundheit und Herausgeberin Gerechte Gesundheit.