Berlin (pag) – Dass medizinischer Fortschritt allen Menschen in Deutschland zugutekommen kann, ist eine Illusion. Die Politik müht sich jedoch, diese um jeden Preis aufrechtzuerhalten und sperrt sich gegen die längst überfällige Allokationsdebatte – so lautet der Tenor bei einem Symposium der Leopoldina in Berlin.
Aus Sicht der Diskutanten verschließt sich die Politik den grundlegenden Problemen im deutschen Gesundheitssystem. Mit Blick auf sehr teure neuartige Thera-pien, Pflegenotstand und andere Investitionsfragen erfordere es politische Entscheidungen, an die sich niemand herantraue. Prof. Heyo K. Kroemer, Dekan der Universitätsmedizin Göttingen, identifiziert als Grundproblem, dass es keinen Konsens gebe, wie die Gesundheitsversorgung der Zukunft aussehen soll. „Wir erhalten die Illusion aufrecht, dass alle alles kriegen.“ Das sei nicht realistisch. Es gelte, sich der dringend nötigen Allokationsdebatte zu stellen. Davon sei Deutschland jedoch weit entfernt. „Entscheidungen setzen einen politischen Willen voraus, der nicht existent ist.“ Krömer weiter: „Ich bin nicht für Politik-Bashing, aber man muss sagen, dass vor diesen Grundsatzfragen eine Haltung existiert, die an Verweigerung grenzt.“
Auch die Ärzte verschließen sich
Der Gesundheitsökonom Prof. Reinhard Busse von der Technischen Universität Berlin pflichtet ihm bei, kritisiert aber auch den Präsidenten der Bundesärztekammer (BÄK), Prof. Frank Ulrich Montgomery. Dieser werde nicht müde zu betonen, dass Deutschland das beste Gesundheitssystem der Welt hat. „Wenn man sich so verschließt davor, was in anderen Ländern passiert, und sich scheut, gute Lösungen auch bei uns auszuprobieren, dann geraten wir in den Rückstand“, moniert er. „Dann kommt es gar nicht mehr darauf an, wie viel Fortschritt wir machen, sondern dass wir den Fortschritt, den andere bereits entwickelt haben, gar nicht nutzen.“
Die Medizinethikerin Prof. Bettina Schöne-Seifert von der Universität Münster sieht das ähnlich. „Wer in Deutschland das Wort Rationierung in den Mund nimmt, der ist gleich ein Unmensch“, sagt sie. Die Behauptung, alles was medizinisch notwendig ist, bekäme jeder und für immer, predige der BÄK-Präsident ebenso wie alle Parteien. „Diese Verweigerung der Diskussion wird uns noch teuer zu stehen kommen.“