Im Gespräch

„Hoch bedeutsame psychologische und soziale Folgen“

Prof. Michael Rapp über Herausforderungen der Demenzprädiktion

Berlin (pag) – Der Sozialmediziner Prof. Michael Rapp weist im Interview auf die erheblichen psychologischen und sozialen Folgen für Personen hin, wenn sich diese frühzeitig auf Alzheimer testen lassen. Eine umfangreiche Beratung sei unerlässlich, auch müsse das Recht der Patienten auf Nichtwissen geschützt werden, fordert er.

Prof. Michael Rapp © privat

Die Demenzforschung gilt als schwieriger Forschungsbereich, der immer wieder Enttäuschungen verkraften musste. Jetzt scheint es einen Paradigmenwechsel hin zu Früherkennung und Prädiktion mittels Biomarker zu geben. Welche Chancen sehen Sie?

Rapp: Die klinische Demenzforschung hat immer wieder zwei Seiten gezeigt: Zum einen die Suche nach einer kurativen medikamentösen Therapie, die von vielen Enttäuschungen geprägt war. Zum anderen gibt es eine Reihe von Erfolgen in nichtmedikamentösen Verfahren – Ergotherapie, körperliche Aktivierung – und bei der Verbesserung der Versorgung durch die Vermeidung von Zwang und Psychopharmaka, was inzwischen auch Einzug in Leitlinienempfehlungen gehalten hat. Ob der Paradigmenwechsel zur Früherkennung und zu Biomarkern eine Reaktion auf die nur zögerlichen Erfolge bei einer kurativen medi-kamentösen Therapie darstellt, vermag ich nicht zu beurteilen. Bereits vor zwei Dekaden bestand in der neuropsychologischen Forschung ein Interesse an einer frühen Früherkennung – auch damals ohne eine effektive kurative oder präventive Therapie vorweisen zu können.

Wie bewerten Sie die gegenwärtigen Initiativen zur Prädiktion?

Rapp: Ich sehe ein Spannungsverhältnis: Einerseits ist eine zeitige Früherkennung erforderlich, um frühzeitige Interventionen, die neurobiologisch einiges an Plausibilität aufweisen, klinisch testen zu können. Dazu zählen letztlich auch nichtmedikamentöse präventive Verfahren. Andererseits weckt die Möglichkeit einer frühen Früh-erkennung berechtigterweise auch Wünsche, Sorgen und Ängste bei den Patienten. Für die individuelle Prädiktion in der Breite ist dieser Ansatz noch nicht ausreichend untersucht.

Wo sehen Sie die größten Herausforderungen?

Rapp: Ethisch ergibt sich natürlich die Frage, warum etwas gewusst werden soll oder darf, gegen das bisher keine effektive frühe Inter-ventionsmöglichkeit besteht. Neben den ethischen Fragen nach Nutzen und Risiken bei der Teilnahme an frühen Interventionsstudien stellt sich auch die Frage, ob so eine Früherkennung klinisch angeboten werden sollte. Dabei ist zunächst festzuhalten, dass sie nicht als Routine von Leitlinien empfohlen wird und es bisher keine klinischen Studien zur Effektivität und Wirksamkeit der frühen Demenzprädiktion gibt. Darüber hinaus ist die Prädiktion mit Fehlern behaftet.

Inwiefern?

Rapp: Selbst bei einer herausragend guten Sensitivität und Spezifität von jeweils 90 Prozent würde von zehn Untersuchten einem mitgeteilt, dass er möglicherweise Demenz bekommt, ohne dass dies je eintreten wird. Die persönlichen psychologischen und sozialen Folgen auch im engsten Familienkreis sind sowohl für diese Gruppe als auch für die richtigerweise positiv Getesteten hoch bedeutsam. Hier ist eine umfangreiche medizinisch-ethische Beratung vor Einwilligung zum prädiktiven Screening ebenso erforderlich wie gegeben-enfalls eine psychosoziale Beratung zu den Folgen der Untersuchungsergebnisse. Zudem besteht beim Patienten ein Recht auf Nichtwissen, das ethisch und rechtlich zu schützen ist.

Wie können sich Politik, Gesellschaft und Ärzteschaft auf diesen medizinischen Fortschritt vorbereiten?

Rapp: Zunächst sind weitere Studien erforderlich, die die Effektivität einer frühen Demenzprädiktion und möglicher Interventionen belegen. Bis dahin kann die frühe Prädiktion außerhalb von wissenschaftlichen Studien nur als individuelle Behandlungsleistung zwischen Arzt und Patient erfolgen. Die routinemäßige Indikationsstellung außerhalb von Forschungskontexten erscheint mir problematisch und sollte als nicht leitliniengerecht kenntlich gemacht werden. Hier sind enge ethische und regulative Beratungsmaßstäbe anzulegen, wie wir sie beispielsweise aus der Gendiagnostik kennen. Eine solche regulative Absicherung könnte den gegebenenfalls anlasslosen Wunsch nach Wissen im Rahmen einer umfassenden Beratung kanalisieren und gleichzeitig anlassbezogene Sorgen und Ängste einordnen und deren Folgen therapeutisch unterstützen helfen.

 

ZUR PERSON

Prof. Michael Rapp ist seit 2013 Professor für Sozial- und Präventivmedizin, Universität Potsdam. Zuvor arbeitete er unter anderem als Chefarzt der Klinik für Gerontopsychiatrie am Asklepios Fachklinikum Brandenburg a.d. Havel. Seit vergangenem Jahr ist Rapp Präsident der Deutschen Gesellschaft für Gerontopsychiatrie und -psychotherapie. Der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie (Zusatzbezeichnung Geriatrie) ist Vorsitzender der Ethikkommission der Universität Potsdam.