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Garant oder Bremser?

Die Selbstverwaltung im Gesundheitswesen

Berlin (pag) – Die Gutachten zur verfassungsrechtlichen Legitimation des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) sind veröffentlicht – und jetzt? Nicht nur der Ausschuss, sondern die Selbstverwaltung insgesamt steht seit einiger Zeit unter kritischer Beobachtung. Eine Bestandsaufnahme.

„Die Akteure der Selbstverwaltung werden mit der Lösung von Problemen beauftragt, die sie überhaupt erst geschaffen haben“, sagt Prof. Reinhard Busse von der TU Berlin. © pag, Fiolka

Mit einem Satz hat es Prof. Reinhard Busse von der TU Berlin kürzlich auf dem Hauptstadtkongress geschafft, den ehemaligen unparteiischen Vorsitzenden des G-BA, Rainer Hess, auf die Palme zu bringen. „Die Akteure der Selbstverwaltung werden mit der Lösung von Problemen beauftragt, die sie überhaupt erst geschaffen haben.“ Einige Probleme hat er zuvor genannt: etwa den extrem gestiegenen Arzneimittelkonsum, ein Überangebot an stationärer Versorgung und die Notfallversorgung.

„Für diese Behauptung haben Sie den Beweis nicht erbracht“, kontert der Jurist Hess. Die Selbstverwaltung sei nicht handlungsfähig aus sich heraus, sie sei mittelbare Staatsverwaltung, erläutert er. Sie könne nur in dem Rahmen handeln, den der Gesetzgeber ihr geschaffen hat. Beispiel Arzneimittelzugang: Es gebe den freien Marktzugang und keine vierte Hürde. „Ist nicht allein daraus schon abzuleiten, dass wir höhere Ausgaben haben müssen?“, fragt Hess. Er verweist außerdem darauf, dass es im Krankenhausrecht keine Regelungsbefugnis des Bundes gebe, das sei Landesrecht. „Der Gemeinsame Bundesausschuss kommt bei der Bedarfsplanung an die Krankenhäuser gar nicht heran.“ Hess räumt aber auch Verbesserungsbedarf bei der Selbstverwaltung ein. „Wir sind zu langsam.“

Typisch Selbstverwaltung – nicht gerade innovationsfreudig

Rainer Hess, der ehemalige unparteiische Vorsitzende des G-BA, räumt Verbesserungsbedarf bei der Selbstverwaltung ein. „Wir sind zu langsam.“ © pag, Fiolka

Hess greift damit einen bekannten Vorwurf an die Selbstverwaltung auf, der Kritiker außerdem vorhalten, sie sei zu strukturkonservativ und wenig innovationsfreudig. Das ist offenbar nicht nur ein Problem im Gesundheitswesen, sondern des Prinzips Selbstverwaltung allgemein, wie Prof. Winfried Kluth ausführt, der auf dem Hauptstadtkongress neben Hess auf dem Podium sitzt. Der Rechtswissenschaftler hat eines der G-BA-Gutachten verfasst. Die Stärke der Selbstverwaltung liege nicht darin, sagt er, grundlegende Veränderungen bzw. Verbesserungen durchzuführen. Das sei in der Struktur eines Systems begründet, das auf Konsens und Kompromiss ausgerichtet ist. Folglich normiere der Gesetzgeber strikter jene Bereiche, „wo wir mehr und schneller Innovationen benötigen“.

Der Staat interveniert

„Eine starke ärztliche Selbstverwaltung ist alternativlos, man muss uns nur machen lassen“, sagt Dr. Stephan Hofmeister, Vorstand der KBV. © pag, Fiolka

Zahlreiche Veränderungen des Gesetzgebers im Bereich der Selbstverwaltung sind in den letzten Jahren zu beobachten, ein Höhepunkt dürfte das irreführend benannte Selbstverwaltungsstärkungsgesetz sein. Bleiben die erwarteten Ergebnisse aus, scheut sich der Staat nicht, zu intervenieren. Die Rahmenvorgaben sind teilweise so detailliert, dass sich darüber streiten lässt, ob der Name überhaupt noch angemessen ist. Auch werden mittlerweile andere Akteure wie Länder und Kommunen einbezogen. Insbesondere die erweiterten Aufsichtsinstrumente des Bundesgesundheitsministeriums dürften dazu führen, dass sich die Selbstverwaltungsakteure stark gegängelt fühlen und ihre Gestaltungsspielräume schwinden sehen. Das kritisiert bei einer Tagung der Gesellschaft für Sozialen Fortschritt Dr. Stephan Hofmeister, Vorstand der Kassenärztlichen Bundesvereinigung. Er sieht die ärztliche Selbstverwaltung sogar als „Prügelknaben“ missbraucht und fordert: „Eine starke ärztliche Selbstverwaltung ist alternativlos, man muss uns nur machen lassen.“ Ähnlich klingt es bei Dr. Doris Pfeiffer, Vorstandsvorsitzende des GKV-Spitzen-verbandes, die darauf hinweist, dass eine Einschränkung der Gestaltungsmöglichkeiten Auswirkungen auf die Leistungsfähigkeit der Selbstverwaltung habe.

Der innere Zusammenhalt bröckelt

Man macht es sich aber zu leicht, wenn man die Probleme lediglich außerhalb der Selbstverwaltung bzw. bei den Rahmenbedingungen verortet, schließlich ist deren Leistungsfähigkeit auch erheblich durch interne Schwierigkeiten eingeschränkt. Die Probleme bei der Interessensaggregation beschreibt Prof. Thomas Gerlinger von der Universität Bielefeld auf der Veranstaltung. Beispiel Vertragsärzteschaft: Dort beobachtet er eine Pluralisierung von Interessen, eine Ausdifferenzierung von beruflichen Identitäten und vor allem zwischen Haus- und Fachärzten eine hohe Konfliktintensität. Insbesondere den Kassenärztlichen Vereinigungen attestiert er eine deutlich geschwächte innere Kohärenz, die günstige ökonomische Situation habe noch vieles überspielt. Sie reiben sich an ihrer Doppelrolle auf – einerseits als Interessenvertretung der Vertragsärzte gegenüber den Krankenkassen und andererseits als Körperschaft des öffentlichen Rechts mit Sicherstellungauftrag.

Bei den Krankenkassen stellt der Politikwissenschaftler die dominante Rolle des Wettbewerbs hervor, und zwar um einen niedrigen Zusatzbeitrag, der Qualitätswettbewerb spiele eine nur marginale Rolle. Das immer stärkere Selbstverständnis der Kassen als Unternehmen illustriert er wie folgt: „Wer einen Geschäftsbericht oder eine Selbstdarstellung einer Krankenkasse in die Hand nimmt, der kommt auf viele Ideen – aber nicht, dass es sich dabei um mittelbare Staatsverwaltung handelt.“ Dieses Selbstverständnis begründe bei den Kassen eine „Dominanz von Partikularinteressen“.

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Wie lässt sich das Gesundheitswesen steuern?

Festzuhalten ist, dass die Selbstverwaltung mit einer doppelten Komplexität konfrontiert ist: unübersicht-liche Interessenkonstellationen in den eigenen Reihen treffen auf immer anspruchsvollere Aufgaben und eine wachsende Regulierungsdichte. „Gerade die komplizierten Aufgaben werden an die gemeinsame Selbstverwaltung abgegeben und dann wundert man sich, dass das nicht so einfach umzusetzen ist“, sagt Pfeiffer. Dahinter steckt als Kernfrage, wie die vielfältigen Leistungsprozesse im deutschen Gesundheitswesen angemessen gesteuert werden können. Wie weit dürfen und müssen staatliche Vorgaben reichen, wie viel Gestaltungsmöglichkeiten braucht die Selbstverwaltung? Und noch grundsätzlicher kann darüber nachgedacht werden, ob das gegenwärtige Modell überhaupt noch angemessen ist. Dafür spricht, wie Gerlinger darstellt, dass korporatistische Engagements den Staat von Aufgaben entlasten, er kann auf diese Weise beteiligte Interessen integrieren. Dadurch wiederum lässt sich die Legitimität staatlicher Politik erhöhen. Auch scheinen die Alternativen – ein staatliches Gesundheitswesen oder ein rein privates – wenig attraktiv.

The Devil you know

Auf Dauer dürfte es aber zu wenig sein, wenn das System der Selbstverwaltung vor allem damit überzeugt, das am wenigsten schlechte System zu sein. „Es gibt zwischen Staats- und Marktversagen auch ein Korporatismusversagen“, bemerkt etwa Prof. Frank Schulz-Nieswandt auf der Tagung der Gesellschaft für Sozialen Fortschritt. Anstelle eines ewigen „weiter so“ müssen die Herausforderungen angegangen werden. Besondere Aufmerksamkeit verdient auch die mangelnde Nähe zu den Problemen vor Ort. Zu empathielos und abgehoben erscheint die Selbstverwaltung vielen, die sich in der realen Versorgung aufreiben.

Augenmaß und das System nicht zu überfrachten empfiehlt außerdem der Verwaltungsexperte Kluth. „Wer für ein System ist, muss auch die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit erkennen, um es dauerhaft wirksam zu lassen.“ Das sei ein momentan wichtiger Einsichts- und Erkenntnisprozess, unterstreicht er. „Das hat etwas mit Demut zu tun, das hat etwas mit Macht zu tun und das hat etwas mit Klugheit zu tun und die richtige Mischung ist wichtig.“

 

SELBSTVERWALTUNG IM ÜBERBLICK
Das Prinzip der Selbstverwaltung im Gesundheitswesen beschreibt das Bundesgesundheitsministerium (BMG) wie folgt: Innerhalb gesetzlicher Rahmenbedingungen organisieren die Versicherten und Beitragszahler sowie die Leistungserbringer sich selbst in Verbänden, die in eigener Verantwortung die medizinische Versorgung der Bevölkerung übernehmen.
Oberstes Gremium der gemeinsamen Selbstverwaltung der Krankenkassen, Ärzte und Krankenhäuser ist der Gemeinsame Bundesausschuss. Weitere Gremien sind etwa die paritätisch mit Ärzten- und Kassenvertretern besetzten regionalen Zulassungs-, Berufungs- und Beschwerdeausschüsse. Die soziale Selbstverwaltung bezeichnet wiederum die ehrenamtlichen Vertreter der Versicherten und der Arbeitgeber, die im Rahmen der Sozialwahlen gewählt werden. Sie bilden die Verwaltungsräte der gesetzlichen Krankenkassen. Bei der ärztlichen Selbstverwaltung handelt es sich um eine berufsständische Selbstverwaltung. Eine wichtige Aufgabe der Kammern ist die Fortbildung, die Kassenärztlichen Vereinigungen sind für die vertragsärztliche Versorgung der GKV-Versicherten zuständig. Mit dem Selbstverwaltungsstärkungsgesetz wurden die Kontrollmöglichkeiten des BMG über die Selbstverwaltung gestärkt. Man wolle diese vor Selbstblockaden schützen, sagte der damalige Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe bei der Verabschiedung des Gesetzes im vergangenen Jahr.

 

Weiterführende Links:
Gutachten zur verfassungsrechtlichen Legitimation des Gemeinsamen Bundesausschusses:
http://www.bundesgesundheitsministerium.de/service/publikationen/ministerium/details.html?bmg%5Bpubid%5D=3162

Eine Kurzzusammenfassung gibt es auf:
http://www.gerechte-gesundheit.de/news/detail/bmg-veroeffentlicht-gutachten-zur-g-ba-legitimation.html