Berlin (pag) – Mit den Bedürfnissen von Patienten mit seltenen Erkrankungen und den Herausforderungen, die solche Krankheiten an ein solidarisches Gesundheitssystem stellen, hat sich kürzlich der Deutsche Ethikrat befasst. Bemängelt wird fehlende Transparenz bei wichtigen Allokationsentscheidungen.
„Die ethische Herausforderung ist der Ausgleich zwischen den berechtigten Ansprüchen der Menschen mit seltenen Erkrankungen auf eine ausreichende Versorgung einerseits und den strukturellen und ökonomischen Begrenzungen des Gesundheitswesens andererseits“, stellt Ratsmitglied Stephan Kruip, selbst von einer seltenen Erkrankung betroffen, fest. Die Europäische Union habe festgestellt, dass Menschen mit seltenen Erkrankungen den Anspruch auf die gleiche Qualität einer Therapie haben wie andere Menschen. Jörg Richstein, Vorsitzender der Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen (ACHSE), hebt hervor, wie dringend Menschen mit seltenen Erkrankungen eine schnelle Diagnose und richtige Versorgung benötigen. „Die individuelle Seltenheit der Erkrankungen stellt ein solidarisches Gesundheitssystem ohne Zweifel vor große Herausforderungen“, sagt er. „Diese aber nicht anzunehmen, widerspräche dem Grundgedanken einer Solidargemeinschaft.“
Fairer Prozess zur Abwägung der Interessen
Prof. Daniel Strech, Charité und Berliner Institut für Gesundheitsforschung, stellt das Thema Allokation in den Mittelpunkt. Es bestehe zwar breiter Konsens darüber, dass eine solidarische Gesellschaft allen Mitgliedern eine faire Chance auf Behandlung einräumen müsse. Allerdings seien Ressourcen wie Geld, Personal und Zeit für die medizinische Versorgung begrenzt. Daher seien die verschiedenen Interessen und Argumente in einem fairen Prozess abzuwägen. „Wir sollten uns Priorisierungskriterien überlegen, die wir alle konsentieren können“, betont Strech. In der Regel würden dazu der medizinische Nutzen, die Kosteneffektivität und die medizinische Bedürftigkeit herangezogen. Dazu brauche es ein faires, transparentes Verfahren, das Partizipation ermögliche und die bestverfügbare Evidenz einbeziehe. Beim „Nationalen Aktionsplan für Menschen mit Seltenen Erkrankungen“ kann der Experte für translationale Bioethik nicht erkennen, wie die 52 Maßnahmen des Plans vereinbart und priorisiert wurden, auf welcher Evidenz sie beruhen und ob es andere Vorschläge gegeben hat, die nicht berücksichtigt wurden. Auch bei der Forschungsförderung vermisst er einen transparenten Abwägungsprozess: Seit 2003 habe das Bundesministerium für Bildung und Forschung über 134 Millionen Euro zur Aufklärung wichtiger Fragen zu seltenen Erkrankungen finanziert. „Aber ob es ein konkretes Allokationsgespräch gab, wo man sagen würde: Dieses Budget ist das, was wir nach Abwägen von Pro und Contra über die nächsten 15 Jahre zur Verfügung stellen, das wissen wir nicht“, konstatiert Strech. „Wir kennen nur diese Zahl, aber nicht, wie man zu dieser Zahl gekommen ist.“ Offen bleibe: Gab es vielleicht eine Art von Binnenallokation? Wurden bestimmte seltene Erkrankungen eher beforscht und priorisiert oder nicht? Dazu gebe es keine Transparenz.
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Weitere Informationen zur Veranstaltung finden sich unter
http://www.ethikrat.org/veranstaltungen/forum-bioethik/gar-nicht-so-selten