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Sepsis – ein verkanntes Problem

Das „beste Gesundheitssystem der Welt“ hat Nachholbedarf

Berlin (pag) – Sepsis ist ein großes und zugleich verkanntes Problem im deutschen Gesundheitswesen. Jährlich erkranken hierzulande etwa 280.000 Menschen an einer Blutvergiftung, jeder dritte stirbt daran. Dabei ließen sich viele Todesfälle – vermutlich bis zu 20.000 – vermeiden. Das zeigen Erfahrungen aus dem Ausland und eine bemerkenswerte Initiative des Greifswalder Universitätsklinikums.

Von „schmerzhaften Feststellungen im Zeitalter des medizinischen Fortschritts“ spricht Dr. Ralf Brauksiepe, bis 31. Oktober Patientenbeauftragter der Bundesregierung, kürzlich auf einer gemeinsamen Veranstaltung vom Aktionsbündnis Patientensicherheit, der Initiative Sepsisdialog und dem Diagnostika-Hersteller BD. Eine davon lautet: Sepsis ist die am häufigsten vermeidbare Todesursache. „Daran sterben jährlich mehr Menschen als an Brust- und Prostatakrebs sowie HIV/Aids zusammen“, betont Brauksiepe. Doch er verbreitet auch Optimismus: Die Gesundheitspolitik wolle das Problem angehen. Damit meint er ausdrücklich nicht allein die medizinische Herausforderung, sondern auch die erforderliche finanzielle Anstrengung der Solidargemeinschaft.

Wird in Deutschland das Sepsis-Problem verkannt? Zu viele vermeidbare Todesfälle werden in Kauf genommen. Die Krankheit stellt eine vielschichtige Herausforderung dar, die endlich angegangen werden muss. © iStock.com, Oskari Porkka
Wird in Deutschland das Sepsis-Problem verkannt? Zu viele vermeidbare Todesfälle werden in Kauf genommen. Die Krankheit stellt eine vielschichtige Herausforderung dar, die endlich angegangen werden muss. © iStock.com, Oskari Porkka

Mission Sepsis

Aufmerksam verfolgt Privatdozent Dr. Matthias Gründling die Ankündigungen des Politikers. Gründling, der das Qualitätsmanagementprojekt Sepsisdialog und eine Arbeitsgruppe zu dem Thema an der Universitätsmedizin Greifswald leitet, berichtet auf der Veranstaltung des Aktionsbündnisses von seinen Erfahrungen aus dem Versorgungsalltag und von seiner Mission. Diese lautet: Sepsis darf nicht länger der unterschätzte Notfall bleiben. Daran arbeitet unter seiner Leitung seit über zehn Jahren ein Team aus Ärzten, Pflegekräften, Wissenschaftlern und Studenten an der Greifswalder Uniklinik. Darunter ist auch Deutschlands erste und bislang einzige Sepsis-Schwester.

Gründling spricht in seinem Vortrag zahlreiche Schwierigkeiten an, denn Sepsis ist eine vielschichtige Herausforderung. Die unspezifischen Symptome etwa wie ein allgemeines Krankheitsgefühl, Verwirrtheit, Atemnot oder schneller Atmen, Fieber mit Schüttelfrost – „das macht das Erkennen dieser Krankheit zu einem großen Problem“. Fortlaufende Schulungen für Pflegekräfte und Ärzte spielen deshalb in dem Krankenhaus eine große Rolle. Materialien wie Kitteltaschenkarten und Plakate sollen sensibilisieren.

Dicke Bretter und ein Wettlauf mit der Zeit

Stichwort Prophylaxe, dazu umreist Gründling mit wenigen Worten ein sehr weites Feld. Impfungen beispielsweise gegen Pneumokokken sind wichtig, gleiches gilt für eine effektive Infektionsbehandlung und einen sinnvollen Umgang mit Antibiotika. Ebenfalls zur Prophylaxe zählt der Experte die Vermeidung nosokomialer Infektionen – Händehygiene, die Vermeidung unnötiger invasiver Maßnahmen sowie die Prophylaxe von Katheterinfektionen müssen dabei mitgedacht werden – allesamt mehr als dicke Bretter im hiesigen Gesundheitswesen.

Eine weitere Schwierigkeit besteht darin, dass die Therapie der Sepsis ein Wettlauf mit der Zeit ist. „Jede Stunde zählt“ steht auf Gründlings Vortragsfolie zur Sepsisdiagnostik. Eindringlich mahnt er eine optimierte Blutkulturdiagnostik an. Zwar gebe es bereits Technik, die innerhalb von sechs Stunden ein Antibiogramm erstelle. In der deutschen Versorgungswirklichkeit warte man darauf mit klassischer Mikrobiologie allerdings bis zu drei Tage. Probleme bereiteten auch die Entfernungen zwischen Krankenhaus und Labor sowie die Öffnungszeiten von letzterem. Gründling fordert: „Wir müssen es schaffen, dass eine Diagnostik so zur Verfügung steht, wie es für einen Notfall nötig ist – 24 Stunden an sieben Tagen in der Woche.“

 

Was ist eine Sepsis?
Die Krankheit definiert der Mediziner Gründling als eine lebensbedrohliche Organdysfunktion, bedingt durch eine dysregulierte Antwort des Wirtes, also des Patienten, auf eine Infektion. Für Laien verständlicher ausgedrückt bedeutet es, dass das Immunsystem auf eine Infektion so ungünstig reagiert, dass es den Körper schädigt statt ihn zu schützen. Die Mortalitätsrate im Krankenhaus beträgt 2013 44 Prozent, bei septischen Schock sogar knapp 59 Prozent. Zum Vergleich: In England liegt der Wert bei 32,1 Prozent, in den USA bei 29 Prozent und in Australien bei 18,5 Prozent. Wer eine Sepsis überlebt, ist insbesondere bei den schweren Fällen mit gravierenden Spätfolgen konfrontiert. Dr. Illona Köster-Steinebach nennt etwa Amputationen, kognitive Defizite, Angststörungen, Depressionen und Lähmungen.

Die gute Nachricht

Trotz der zahlreichen Probleme und Versäumnisse, die Gründling benennt, hat der Intensivmediziner auch eine gute Nachricht: Eine Sepsis zu diagnostizieren, sei „kein Hexenwerk, man muss es nur strukturiert angehen“. Und das zahlt sich aus. Durch intensive Schulungsprogramme, ein PC-Programm zur Schnellauswertung von Laborwerten und eine zügige Erstbehandlung septischer Patienten konnte in Greifwald das Sepsis-Notfallmanagement Schritt für Schritt optimiert werden. Die 90-Tage-Sterblichkeit von schweren Verlaufsformen wurde von 64,2 Prozent auf 45 Prozent reduziert.

„Sepsis darf nicht länger der unterschätzte Notfall bleiben“, sagt Matthias Gründling, Universitätsmedizin Greifswald © UMG, Janke
„Sepsis darf nicht länger der unterschätzte Notfall bleiben“, sagt Matthias Gründling, Universitätsmedizin Greifswald © UMG, Janke

Einzelne Leuchtturmprojekte wie das in Greifswald sind wichtig, brauchen aber Nachahmer. Ein aktuelles Beispiel: Mit einem am 1. Oktober in einer Pilotphase gestarteten Comprehensive Sepsis Center wollen die Klinik Bavaria Kreischa und das Universitätsklinikum Carl Gustav Carus Dresden die Überlebensrate von Sepsis-Patienten erhöhen und die Lebensqualität der Betroffenen verbessern. Wie solche Initiativen möglichst flächendeckend installiert werden können, wird intensiv auf der Veranstaltung diskutiert. Den dringenden Handlungsbedarf macht die Geschäftsführerin des Aktionsbündnisses Patientensicherheit deutlich: Die Zahl der Fälle steige jährlich um 5,7 Prozent. Und: Bei den hiesigen 280.000 Sepsiserkrankungen handele es sich lediglich um die offiziell codierten. Die tatsächliche Fallzahl dürfte um bis zum 50 Prozent höher liegen, meint Dr. Ilona Köster-Steinebach und verweist auf Untersuchungen aus Jena. „Damit ist auch das Potenzial, Leben zu retten, deutlich höher.“

Die Patientenvertreter im Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) engagieren sich dafür, dass das Thema in den Kliniken eine höhere Priorität erhält. Im vergangenen Jahr haben sie ein Qualitätssicherungsverfahren Sepsis beantragt: Zukünftig sollen Kliniken dokumentieren müssen, wie lange es dauert, bis die Antibiose einsetzt, wie hoch die Sterblichkeit ist etc. Der Haken ist, dass – selbst wenn der G-BA dem Antrag grünes Licht erteilt, wofür die Chancen offenbar gut stehen – es noch bis 2023 dauern wird, bis das Verfahren startet. Anders ausgedrückt: 100.000 vermeidbare Todesfälle werden bis dahin in Kauf genommen.

Verlorene Jahre?

Damit die Zeit bis zum möglichen Start des Verfahrens keine verlorenen Jahre sind, hat das Aktionsbündnis Patientensicherheit eine AG Sepsis initiiert. Diese wird Köster-Steinebach zufolge Patienteninformationen erarbeiten, um ein öffentliches Bewusstsein für die Erkrankung zu schaffen. Auch Fachinformationen für Ärzte sind geplant. Der Geschäftsführerin und früheren G-BA-Patientenvertreterin sind die Grenzen solcher Aktion allerdings wohl bewusst: „Damit können wir nur die erreichen, die sich erreichen lassen wollen.“

 

Wer engagiert sich?

•  Todesfälle durch Sepsis nachhaltig zu reduzieren, ist das Ziel der Sepsis Stiftung, die sich für Forschung und Wissenschaft, Aufklärung und Prävention engagiert. Die Stiftung fordert unter anderem: ein nationales Aufklärungsprogramm, einen Sepsis-Check als Routineuntersuchung bei allen Infektionspatienten und verbindliche Behandlungsstandards. www.sepsis-stiftung.eu

•  Die Deutsche Sepsis-Hilfe (DSH) ist eigenen Angaben zufolge die weltweit erste Organisation von Betroffenen und Angehörigen. 2007 wurde die DSH aus dem Kreis einer Betroffeneninitiative gegründet. Rund 300 eingetragene Mitglieder in Deutschland, aber auch Österreich, Frankreich, Italien, der Schweiz und Griechenland zählt der Verein zurzeit, heißt es in einer DSH-Broschüre. www.sepsis-hilfe.org

•  Mehr über den Greifswalder Sepsis Dialog unter www.medizin.uni-greifswald.de/sepsis/en/home/