Die Kluft zwischen medizinisch Machbarem und praktisch Finanzierbarem
Berlin (pag) – Der medizinische Standard ist wichtig für die individuelle Behandlung des Patienten, aber auch für eine gute und gerechte Versorgung. Das Problem: Mediziner bestimmen ihn anders als Ökonomen oder möglicherweise Ethiker. Besonders heikel wird es für den Arzt, wenn Anforderungen des Haftungs- und des Sozialrechts kollidieren. Eine Tagung in Berlin zeigt, dass der Austausch zwischen den Disziplinen überfällig, aber auch sehr mühsam ist.
Mit den verschiedenen Lesarten des medizinischen Standards hat sich eine von Prof. Christiane Woopen und Prof. Christian Katzenmeier geleitete Expertengruppe beschäftigt. Ihre Arbeit stellt die Gruppe auf einer Tagung in Berlin vor.
Keine Patentlösung habe man gefunden, dämpft Katzenmeier die Erwartungen. Wichtig sei es, das Problembewusstsein zu schärfen. Entsprechend eindringliche Worte findet der Jurist in seinem Vortrag – um so bedauerlicher, dass sich kaum ein politischer Vertreter auf der Veranstaltung blicken lässt, in deren Mittelpunkt insbesondere die Divergenzen zwischen Sozial- und Haftungsrecht stehen. Dabei handelt es sich um kein akademisches Problem, denn die Spannungen zwischen Sorgfalts- und Wirtschaftlichkeitserwägungen bedrängen den Arzt und wirken sich nachteilig auf die Patientenversorgung aus, lautet der Tenor der Veranstaltung.
Die Kluft zwischen „Verheißung und Erfüllung“
Katzenmeier führt aus, dass sich das Haftungsrecht am medizinisch Machbaren orientiere und damit tendenziell die optimale Behandlung verlange. Dem gegenüber dürfen nach Sozialversicherungsrecht Leistungen nur erbracht werden, wenn sie notwendig und wirtschaftlich seien. Er formuliert die brisante Frage: „Wenn die Finanzierung des medizinischen Standards durch Krankenkassen nicht mehr gesichert ist, kann die Rechtsordnung den Arzt verpflichten, Maßnahmen zu treffen, die er möglicherweise nicht liquidieren kann?“
Bei den derzeit vollen Kassen würden zwar gegenwärtig nur selten derartige Fälle vor Gericht ausgetragen, das werde sich aber in Zukunft ändern, prophezeit der Rechtswissenschaftler. Angesichts des Kostenanstiegs, der begrenzten finanziellen Ressourcen und des medizinischen Fortschritts sieht er im Gesundheitswesen eine Kluft zwischen dem in der Medizin theoretisch Machbaren und dem praktisch Finanzierbaren – „eine Kluft zwischen Verheißung und Erfüllung“. Der Arzt werde in Zukunft bei seiner Indikationsstellung mehr als bisher nicht nur den Nutzen für den individuellen Kranken, sondern auch die gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen zu bedenken haben.
Priorisierung anstelle verdeckter Rationierung
Rationierungen hält Katzenmeier für unumgänglich. Allerdings sei der Arzt vor Ort, der über Heilung oder Rettung eines konkreten Menschenlebens entscheide, von der Vorenthaltung effektiver medizinischer Leistungen moralisch überfordert. Der Ort der Entscheidung sei dafür der gesundheitspolitische Diskurs. Anstelle der derzeit praktizierten verdeckten Rationierung spricht sich der Experte für ein priorisierendes Verfahren aus. Dieses könnte mehr Transparenz, Rationalität, Nachvollziehbarkeit und Akzeptanz in die Patientenversorgung tragen.
Auffällig ist, dass auf der Tagung die größten Gefechte nicht zwischen Ethikern und Ökonomen oder Ärzten und Juristen ausgetragen werden, sondern innerhalb der rechtswissenschaftlichen Zunft. Besonders weit liegen die Vorstellungen des Sozialrechtlers Prof. Thorsten Kingreen, Universität Regensburg, und des Justiziars des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA), Dr. Dominik Rothers, auseinander.
Verfassungsrechtlich heikel
Kingreen zufolge kann die Diskrepanz zwischen sozialrechtlichem und haftungsrechtlichem Standard in ein verfassungsrechtliches Dilemma führen. „Es ist verfassungsrechtlich heikel, wenn ein Arzt wegen einer Behandlung in Anspruch genommen werden würde, zu der er zwar nach den Maßstäben der Leitlinien haftungsrechtlich verpflichtet war, die er aber krankenversicherungsrechtlich wegen fehlender Wirtschaftlichkeit gar nicht erbringen dürfte.“ Er warnt davor, diese Diskrepanz durch Aufklärungspflichten des Arztes zu minimieren, denn damit würde das Spannungsverhältnis ins Arzt-Patienten-Verhältnis abgeschoben. Auch die Idee, den krankenversicherungsrechtlichen Standard zum Maßstab für das Haftungsrecht zu machen, ist aus Kingreens Sicht problematisch – wegen der umstrittenen demokratischen Legitimation des G-BA. Der Justiziar des Ausschusses hält dagegen ein problematisches Auseinanderfallen der sozial- und haftungsrechtlichen Standards für konstruiert. Die Diskrepanz führe nicht zu Problemen, da beide aus der gleichen Quelle, der Evidenzbasierten Medizin, schöpften.
Sprachprobleme und implizite ökonomische Einflüsse
In der Diskussion konstatiert Prof. Ina Kopp, Leitlinienexpertin der Arbeitsgemeinschaft Medizinisch Wissenschaftlicher Fachgesellschaften, ein Sprachproblem, das eine Verständigung zwischen den Disziplinen erschwere: In der Medizin werde – etwa bei der Leitlinienarbeit – nie vom Standard gesprochen, „wir sprechen immer von der Qualität“. Zwischen dem, was in der Medizin im Sinne der Qualität als Nutzen bewertet werde, und dem, was der G-BA allein schon aus Machbarkeitsgründen in Richtlinien gießen könne, bestehe „ein Delta“.
Ein weiteres Thema sind implizite ökonomische Einflüsse. Für den Gesundheitsökonomen Prof. Jürgen Wasem sind fehlende gesundheitsökonomische Evaluationen bei der Messung des Standards einer der Gründe dafür, dass der G-BA Gefahr laufe, bei der Nutzenbewertung implizite ökonomische Erwägungen anzustellen. „Nur verbirgt er das in einer entsprechenden Ausgestaltung der Nutzenbewertung.“ Wasem mahnt eine bessere Transparenz über Kosten an, „sonst lügen wir uns als Gesellschaft in die Tasche“.
Vera von Pentz, Richterin am Bundesgerichtshof und stellvertretende Vorsitzende des VI. Zivilsenats, warnt vor einer ökonomischen Infiltration der haftungsrechtlichen Sorgfaltsanforderungen. „Bei uns im Senat haben wir den Eindruck, dass der Standard schleichend herabgesetzt wird.“ Das passiere, wenn der medizinische Sachverständige eine Leistung als nicht mehr geboten bewertet, weil sie in der GKV nicht ersatzfähig sei und deswegen immer seltener praktiziert werde. Lege er das im Gutachten nicht offen, hätten die Richter keine Chance zu erkennen, dass die haftungsrechtlich maßgeblichen Sorgfaltsanforderungen von dem geringeren sozialrechtlichen Standard beeinflusst wurden. Es vollziehe sich eine Konvergenz der Standards – ohne dass jemand, mit Ausnahme des Sachverständigen, eine Entscheidung getroffen hat.
„Das ist ungut“, sagt Vera von Pentz.
Der Arzt: „Der Patient ist nicht standardisierbar“
Prof. Hans-Detlev Saeger, ehemaliger Direktor der Klinik für Viszeral-, Thorax- und Gefäßchirurgie an der Uniklinik Dresden
„Der Standard braucht Konstanten – aber welche?“, fragt Saeger. Er nennt unter anderem die Stichwörter Evidenzbasierte Medizin, Leitlinien, Qualitätssicherung, wertbasierte Medizin, aber auch das Wirtschaftlichkeitsgebot. Die personalisierte Medizin mache die Ermittlung eines Standards nicht leichter. Der Arzt betont, dass auch Abwarten – „und nicht gleich die Knieendoprothese hinein zu hämmern“ – oder sogar das Auslassen einer Therapie in bestimmten Situationen Standard sein können. Grundsätzlich gilt: „Der Patient ist nicht standardisierbar.“
Der medizinische Gutachter: Operieren auf der Lernkurve
Prof. Hans-Friedrich Kienzle, Chefarzt der Chirurgischen Klinik Köln-Holweide i.R.
Aus Sicht des medizinischen Gutachters geht es darum, den Standard für den konkreten Einzelfall zu ermitteln. „Im Gutachten werden Standards geprüft, nicht entwickelt“, sagt er. Bei der Prüfung spielen der Facharztstandard, Richt- und Leitlinien und Dokumentation eine Rolle. „Ein Riesenproblem“ stelle ein Standard in Entwicklung dar, sagt Kienzle – wenn beispielsweise neue Operationsmethoden verwendet werden, die aber noch nicht flächendeckend zum Einsatz kommen. In solchen Fällen spiele die Aufklärung eine besonders wichtige Rolle. Eng damit ist das Problem der Lernkurve verbunden. Die rhetorische Frage des Gutachters: „Wer möchte auf der Lernkurve operiert werden?“
Die Sozialrichterin: „Der Einzelfall kann aus dem Blick geraten“
Dr. Anne Barbara Lungstras, Richterin am Sozialgericht Berlin
Der Standard wird vor Sozialgerichten meist dann relevant, wenn es darum geht, welche neuen Therapien zulasten der GKV erbracht werden dürfen. Am Beispiel der Kopforthese stellt die Richterin den Konflikt zwischen dem, was der Arzt rät, und dem, was die Krankenkasse zahlt, dar. Das Qualitätsgebot und Wirtschaftlichkeitsgebot bildeten die Pfeiler der Standardsetzung im Sozialgesetzbuch V. Der Standard werde nicht von Fall zu Fall durch den einzelnen Arzt festgelegt, sondern durch eine Vorabentscheidung. „Der Einfall kann aus dem Blick geraten“, räumt die Richterin ein. Ausnahmeregelungen – „Nikolaus-“, Seltenheits- und Systemversagensfälle – dienten der „Abfederung“. Mengenbegrenzende Maßnahmen haben Lungstras zufolge nichts mit der Standardbestimmung im SGB V zu tun, sie schränkten den GKV-Leistungskatalog in keiner Weise ein.
Der Haftungsrichter: Der Handlungskorridor eines Arztes
Wolfgang Frahm, Vorsitzender Richter am Oberlandesgericht Schleswig
Zur Ermittlung des Standards nennt Frahm folgende Kriterien: Sorgfalt des Arztes, konkrete Behandlungssituation, individuelle Bedürfnisse des Patienten, der Zeitpunkt (ex ante), fachliche Erkenntnisse und Erfahrung sowie die Eingrenzung auf das betreffende Fachgebiet. Der Richter betont, dass sich der Arzt in einem Korridor bewegen dürfe – vom Goldstandard bis hin zur noch ausreichenden Behandlung. Vor Gericht spielen Sachverständige eine wichtige Rolle; wichtig sei bei ihnen Fachgleichheit, überragende Sachkunde, Objektivität, Unbefangenheit. Richtlinien des G-BA lässt der Bundesgerichtshof Rechtsnormqualität zukommen, sagt Frahm. „Was dort steht, ist Mindeststandard – auch für Privatversicherte.“
Die Ethikerin: Behandlungsbündnis zwischen Arzt und Patient
Prof. Christiane Woopen, ceres Universität zu Köln
Als zentral stellt Woopen das Patientenwohl heraus. Dafür hat der Deutsche Ethikrat drei Elemente bestimmt: selbstbestimmungsermöglichende Sorge, gute Behandlungsqualität sowie Zugangs- und Verteilungsgerechtigkeit. Arzt und Patient bildeten ein „Behandlungsbündnis“. Die Ethikerin wünscht sich, dass dieser Umstand bereits bei der Forschung berücksichtigt wird, etwa bei der Definition von Outcome-Parametern. Nutzenbewertungen, Leitlinien und Co., auf deren Grundlage der medizinische Standard erarbeitet werde, griffen in dieser Hinsicht noch zu kurz, kritisiert sie. „Für die Ethik sind die Patientenpräferenzen von vornherein genuiner Bestandteil dessen, was in einen medizinischen Standard einfließen sollte.“ Essenziell sei die Aufklärung der Patienten über mögliche Behandlungsalternativen.
Der Ökonom: Die Illusion, nicht zu rationieren
Prof. Jürgen Wasem, Universität Duisburg-Essen
Nach der reinen gesundheitsökonomischen Lehre müsste bei der Entscheidung, ob neue Leistungen von der GKV erstattet werden, ein Abgleich zwischen gesellschaftlicher Zahlungsbereitschaft für Innovationen und deren Kosten-Nutzen-Relation vorgenommen werden. Das übliche Outcome-Maß seien dafür QALYs. Bei deren Ermittlung könnten gesellschaftliche Vorstellung von Gerechtigkeit durch Gewichte berücksichtigt werden. Hierzulande gebe es allerdings keine Schwellenwerte für die gesellschaftliche Zahlungsbereitschaft. Wasem appelliert: „Wir brauchen Ergebnisse ökonomischer Evaluation als Informationsgrundlage für einen qualitativen gesellschaftlichen Entscheidungsprozess.“ Bedauerlich sei, dass faktisch keine vernünftige gesundheitsökonomische Evaluation bei der Messung des Standards gemacht werde. „Das vermittelt die Illusion, wir rationieren nicht und machen alles.“
Sämtliche Portraitaufnahmen in den Kästen © Tobias Rücker, ceres