Im Fokus

„Das Armutsrisiko ist real“

Tag der Krebs-Selbsthilfe zu den finanziellen Folgen der Krankheit

Berlin (pag) – „Vom Krebs gezeichnet, vom Jobcenter bestraft.“ Die Berliner Boulevardzeitung B.Z. überschreibt so ihren Artikel im Dezember 2018. Es geht um eine junge, alleinerziehende Mutter, die an Brustkrebs erkrankt ist. Schlagzeilen wie diese gibt es immer mal wieder, aber eine systematische Auseinandersetzung mit durch Krankheit verursachte Armut steckt noch in den Anfängen.

Es scheint ein blinder Fleck des hiesigen Gesundheitssystems zu sein, das von Politikern und Funktionären stets als eines der besten der Welt bezeichnet wird: das sehr reale Risiko, durch Krankheit arm zu werden. Dazu gibt es erst einige wenige Studien. Wie der Überschuldungsreport des iff Hamburg von 2018 zeigt, werden rund zehn Prozent der privaten Überschuldungen durch Krankheit verursacht. Für Patienten ist das ein Tabuthema. Scham hindert viele Betroffene daran, offen über ihre finanziellen Probleme zu sprechen. Nach einer potenziell lebensbedrohlichen Diagnose wie Krebs stehen naturgemäß erst einmal Fragen nach Behandlungs- und Therapieansätzen an – es geht darum, ob und wie man wieder gesund wird. Dass längerfristige Erkrankungen aber auch finanzielle Auswirkungen haben können, wird dabei übersehen, schreibt die Felix Burda Stiftung. Gemeinsam mit anderen Partnern unterstützt sie in Not geratene Darmkrebspatienten. Auch der Härtefallfonds der Deutschen Krebshilfe bietet Patienten kurzfristige finanzielle Hilfe.

„Das System, das mir helfen soll, bereitet mir zusätzliche Schwierigkeiten.“ „Man wird medizinisch ausgezogen und dann muss man auch noch büro-kratisch die Hosen herunterlassen.“ So schildern Brustkrebspatientinnen ihre Erfahrungen. Für viele Betroffene ist es ein Tabuthema: Armut durch Krankheit. © iStock.com, stockfour

Hohe finanzielle Belastungen

Studien aus dem Ausland zeigen, dass 28 bis 48 Prozent der Krebspatienten mit einer objektiv hohen finanziellen
Belastung konfrontiert sind. Für Deutschland nennt Prof. Matthias Richter von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg unter anderem folgende Zahlen: 34 Prozent der Krebspatienten sagen, dass sich ihre finanzielle Lage negativ verändert habe. Circa 20 Prozent der Brustkrebspatienten berichten von finanziellen Schwierigkeiten. Der Medizinsoziologe unterscheidet bei der objektiven finanziellen Belastung zwischen indirekten Kosten (Einkommensverluste), direkten medizinischen Kosten (etwa Zuzahlungen zu Medikamenten, Heil- und Hilfsmitteln) und direkten nicht-medizinischen Kosten wie Haushaltskosten und Fahrtkosten. Sein Fazit lautet: Auch in Deutschland kann eine Krebserkrankung erhebliche finanzielle Belastungen für die Patienten bedeuten. „Das Armutsrisiko ist real“, sagt er auf dem Tag der Krebs-Selbsthilfe, der sich diesem Thema kürzlich gewidmet hat. Dort wird auch die Heidelberger Studie „NET and Poverty“ vorgestellt, welche die wirtschaftlichen Auswirkungen von Krebserkrankungen näher analysiert. Dafür wurden Patienten mit neuroendokrinen Tumoren und kolorektalen Karzinomen befragt sowie Daten der Barmer ausgewertet. Demnach sind für die Betroffenen weniger die Zuzahlungen als viel eher die Einkommensverluste gravierend. 81 Prozent der Befragten haben Mehrausgaben, bei drei Viertel von ihnen liegen diese unter 200 Euro. Ein Drittel der Patienten leidet unter Einkommensverlusten, bei 36 Prozent betragen diese über 500 Euro und bei 24 Prozent liegen die Verluste sogar über 1.200 Euro monatlich.

Die Risikogruppen

Das höchste Risiko, in die Armutsfalle zu rutschen, haben jungen Erwachsene, Selbstständige, Familien mit Kindern, Alleinerziehende und Alleinstehende, sagt Rainer Göbel von der Deutschen Leukämie- und Lymphom-Hilfe. Auf dem Selbsthilfe-Tag berichtet er, dass berufliche und finanzielle Sorgen zunehmend den Gesundungsprozess der Patienten belasten. Folglich hat sich auch der Beratungs- und Unterstützungsbedarf der Betroffenen verändert – „weg von den krankheitsbezogenen Fragen, die früher im Vordergrund standen, hin zum Finanziellen.“ Studien zeigen, dass ein Drittel der Krebspatienten nach der Therapie nicht mehr arbeitet. Göbel weist darauf hin, dass es dafür auch systembedingte Gründe gibt (siehe Infokasten). Ein wichtiges Anliegen ist es ihm daher, dass etwa die Hürden für eine Teilerwerbsminderungsrente abgebaut werden. Im Vergleich zur Vollerwerbsminderungsrente mit 21.245 Empfängern beziehe diese nur ein „verschwindend geringer Teil, nämlich 1.056 Personen (Quelle: DRV Bund, 2016). Viel Potenzial sieht der Patientenvertreter in diesem Segment.

STUDIE KREBS UND ARMUT
Die aktuelle Studie „Krebs und Armut“, für die Patienten befragt und Daten der AOK Nordost ausgewertet wurden, ermittelt Gründe für die Veränderung der Erwerbstätigkeit von Betroffenen.
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Die Interviewten nennen:
• Leistungsfähigkeit durch Erkrankung/Therapie eingeschränkt:   79 %
• keine Anpassung der Arbeitsbedingungen möglich:   23 %
• andere Schwerpunktsetzung im Leben:   17 %
• keine Beratung zur beruflichen Perspektive und Wiedereingliederung:   10 %
• keine schrittweise Wiederaufnahme der Tätigkeit möglich:   9 %
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Mehr zur Studie:
http://www.ash-berlin.eu/forschung/forschungsprojekte-a-z/kua/

„Die Verfahren sind an den Rechtswegen vorbei“

Auch Jürgen Walther vom Sozialdienst des Nationalen Centrums für Tumorerkrankungen Heidelberg geht es um die Stellschrauben im System, die verändert werden müssen. Davon nennt er in seinem Vortrag mehrere. Adressaten sind die Krankenkassen: Diese forderten, gerade in der Onkologie, viel zu früh zur Reha auf. Den Gutachten fehle die Sorgfalt. Und: „Die Verfahren sind an den Rechtswegen vorbei.“ Als Beispiele nennt Walther Einschränkungen der Zehn-Wochen-Frist. Diese Frist können nach Paragraf 51 Sozialgesetzbuch V Kassen setzen. Innerhalb des Zeitraumes haben Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit nach ärztlichem Gutachten erheblich gefährdet oder gemindert ist, einen Antrag auf Leistungen zur medizinischen Reha und zur Teilhabe am Arbeitsleben zu stellen. In seiner Beratungspraxis hat der Sozialdienstleiter aber oft erlebt, dass Kassen die zehn Wochen auf drei verkürzen. Ferner gibt es Fälle, in denen sie auf eine Rechtsbehelfsbelehrung verzichten, „das heißt, sie lassen das Widerspruchsrecht auströpfeln“. Walter verweist auf ein Rundschreiben des Bundesversicherungsamts, in dem diese Praxis gerügt werde. Das bedeute, dass es sich nicht um Einzelfälle handelt. Hinter diesen Verfahren stecke Systematik, glaubt er. Als Folge werde das Vertrauen der Patienten in diese Institutionen zerstört. „Ökonomische Interessen dürfen nicht dazu führen, dass mit Menschen so umgegangen wird“ – mit diesem Appell schließt er seinen Bericht aus dem Beratungsalltag.

Was Patienten brauchen

Viele der auf der Tagung besprochenen Probleme hat der Bundesverband Haus der Krebs-Selbsthilfe in einem Forderungskatalog zum Thema Krebs und Armut aufgegriffen. Darin wird unter anderem verlangt, dass der Anspruch auf Krankengeld länger und verlässlicher sein müsse. Die Erwerbsminderungsrente müsse angehoben und leichter zu beziehen sein. Weitere Forderungen betreffen die Themen existenzielle Absicherung, Rehabilitation, Rückkehr in den Beruf, Lotsen sowie Mitsprache. Bei dem Tag der Krebs-Selbsthilfe sind sich alle einig: Das Thema gehört auf die politische Agenda. Umso bitterer, dass nur ein einziger Politiker anwesend ist.

 

Auf dem Verschiebebahnhof – wie soll man da gesund werden?

Beim Tag der Krebs-Selbsthilfe kommen gleich mehrere Betroffene zu Wort. Den Anfang macht Manfred Schmidt*, der einen Verschiebebahnhof zwischen Krankenkasse, Arbeitsagentur und Rentenversicherungsträger erlebte: „Keiner fühlte sich zuständig.“ Obgleich er sich als Kämpfernatur beschreibt, haben ihn die ständigen Auseinandersetzungen mit Behörden zermürbt. „Man fällt in ein tiefes Loch, wie soll man da gesund werden?“

Keine Hilfe, sondern zusätzliche Schwierigkeiten vom System
Ähnlich drückt es die Brustkrebspatientin Sabine Gabert* aus. Sie kritisiert: „Das System, das mir helfen soll, bereitet mir zusätzliche Schwierigkeiten.“ Sie fühlte sich beispielsweise von ihrer Krankenkasse unter Druck gesetzt, die sie noch während der Chemotherapie mehrfach zu einer Reha aufforderte. „Dabei wollte ich erst einmal mein Leben auf die Reihe bekommen und arbeiten gehen“, erläutert Gabert.

Bürokratisch die Hosen herunterlassen
„Man wird medizinisch ausgezogen und dann muss man auch noch bürokratisch die Hosen herunterlassen“, sagt Brustkrebspatienten Yvonne Schubert*. Die junge Frau musste zwischenzeitlich mit extrem wenig Geld auskommen, lebte ein halbes Jahr von Spendengeldern. Allgegenwärtig ist die Angst, dass das Geld nicht reicht. Kleine Extras, um auf andere Gedanken zu kommen – etwa ins Café zu gehen – sind nicht drin. „Alles, was einem gut täte, fällt weg“. Hinzu kommt ein Gefühl der Isolation.

Auf der vermeintlich sicheren Seite
Auf der Veranstaltung wird deutlich, dass auch Patienten, die sich finanziell auf der sicheren Seite wähnten, in Folge einer Krebserkrankung in finanzielle Bedrängnis geraten können. Eine von ihnen ist Marlene Ziegler*, Angestellte im Öffentlichen Dienst. „So etwas passiert mir nicht“, habe sie vor ihrer Darmkrebserkrankung gedacht. Doch Zuzahlungen, Fahrtkosten und Co. brachten sie in eine finanzielle Schieflage, in der sie sehr dankbar war für externe Unterstützung.

* Die Namen wurden von der Redaktion geändert, da die Betroffenen anonym bleiben möchten.

 

Weiterführende Links

iff-Überschulungsreport 2018
https://www.iff-ueberschuldungsreport.de/media.php?id=5331

Artikel der BZ „Schicksal einer jungen Mutter / Vom Krebs gezeichnet, dann vom Jobcenter bestraft“
https://www.bz-berlin.de/berlin/vom-krebs-gezeichnet-dann-vom-jobcenter-bestraft

Mehr über die Studie „NET and Poverty“
https://www.nct-heidelberg.de/forschung/nct-core-services/nct-epoc/research/cancer-and-poverty.html