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Ökonomisierung: Mythos oder Bedrohung?

Eine ärztliche und eine ökonomische Perspektive auf das Thema

Berlin (pag) – Die Debatte um die Ökonomisierung des Gesundheitswesens ebbt nicht ab. Während die Arbeitsgemeinschaft wissenschaftlicher medizinischer Fachgesellschaften (AWMF) in einer Stellungnahme davor warnt, dass die Dominanz betriebswirtschaftlicher Ziele die Patientenversorgung gefährde, erklärt der Publizist und Ökonom Hartmut Reiners die Ökonomisierung zum Mythos. Beide stellen hier ihre Sichtweise dar.

© iStock.com, Artsanova
© iStock.com, Artsanova

Über das Phänomen der „Ökonomisierung der Medizin“ diskutieren derzeit Diabetologen genauso intensiv wie Onkologen oder Gynäkologen auf ihren Kongressen. Sie alle wehren sich gegen ein Denken, das den Arzt als reinen Dienstleister, den Patienten als Kunden und die Behandlung als eine Ware in einem betriebswirtschaftlich ausgerichteten Prozess, den es nach arztfremden Kriterien zu optimieren gilt, versteht. Allerdings ist der Begriff der Ökonomisierung nicht unumstritten. Kritikern zufolge suggeriert er, dass die Medizin ein ökonomiefreier Raum sein könne. Dabei sei jede medizinische Entscheidung auch eine über den Verbrauch von Ressourcen.

 

Dr. Monika Nothacker
Fehlanreize behindern patientenorientierte Medizin

Die AWMF und ihre Fachgesellschaften nehmen eine zunehmende Dominanz betriebswirtschaftlicher Ziele vor allem im stationären Gesundheitssektor wahr, die sich negativ auf die Patientenversorgung auswirken und diese gefährden. Deshalb sah sich die AWMF veranlasst, zusammen mit Fachgesellschaftsvertretern ein Positionspapier zu erarbeiten. Der Begriff „Ökonomisierung“ wird dabei verwendet – und zwar im Sinne der Definition der zentralen Ethikkommission der Bundesärztekammer: Als eine Entwicklung in der Medizin, bei der betriebswirtschaftliche Erwägungen – jenseits ihrer Dienstfunktion – zunehmende Definitionsmacht über individuelle und institutionelle Handlungsziele in der Patientenversorgung gewinnen. Völlig unstrittig ist, dass in unserem solidarisch finanzierten Gesundheitssystem eine angemessene, effiziente und gerechte Verwendung der zur Verfügung gestellten Mittel geboten ist. „Ökonomisierung“ jedoch belastet Ärzte und Pflegende sowie die weiteren Gesundheitsberufe. Es bestehen Fehlanreize gegen eine patientenorientierte, wissenschaftliche Medizin durch das Vergütungssystem, die Anzahl und Ausstattung von Krankenhäusern bzw. Fachabteilungen und deren Grundfinanzierung. Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken, werden Maßnahmen auf allen Ebenen des Gesundheitssystems vorgeschlagen. Es bedarf der gemeinsamen Anstrengung aller Akteure, den Patienten und seine Gesundheit wieder in den Mittelpunkt zu stellen. Auf der Ebene Patient-Arzt ist der Ausbau der sprechenden Medizin von Nöten, eine Stärkung der gemeinsamen Entscheidungsfindung und der interdisziplinären Abstimmung. Durch die konsequente Implementierung von Leitlinien und von laienverständlichen Formaten wie „Gemeinsam Klug Entscheiden“ sollen mögliche Überdiagnostik und Übertherapie klar adressiert werden, aber auch Fehlentwicklungen im Sinne einer Unterversorgung.

Krankenhausleitungen haben den Auftrag, Wertemanagement- und Führungskonzepte zu verwirklichen, die medizinische und wirtschaftliche Erwägungen gleichermaßen berücksichtigen, anstatt sich vorrangig an betriebswirtschaftlichen Anforderungen auszurichten. Dafür bedarf es einer gemeinsamen Führung (Ärztliche – und Pflegedirektion, kaufmännische Leitung). Die Vergütung nach Fallpauschalen ist im Sinne einer patientenorientierten Medizin anzupassen, Fehlanreize für Interventionen sind zu korrigieren. Die „sprechende Medizin“ einschließlich der interdisziplinären Abstimmung sollte besser vergütet werden. Der Krankenhaussektor insgesamt kann nicht weiter isoliert betrachtet werden. Die Planung muss im Rahmen sektorübergreifender Konzepte nach Bedarf erfolgen. Dabei sind vorhandene stationäre Überkapazitäten abzubauen und geeignete teilstationäre und ambulante Strukturen zu entwickeln und vorzuhalten. Definierte Qualitätsanforderungen sollten für alle Krankenhausbereiche vorliegen.

ZUR PERSON
Dr. Monika Nothacker hat unter anderem als Oberärztin der Abteilung Gynäkologie und Geburtshilfe des Urban-Klinikums in Berlin gearbeitet. Seit 2012 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin der Arbeitsgemeinschaft wissenschaftlich medizinischer Fachgesellschaften (AWMF).
Die AWMF hat kürzlich eine Stellungnahme zu „Medizin und Ökonomie – Maßnahmen für eine wissenschaftlich begründete, patientenzentrierte und ressourcenbewusste Versorgung“ publiziert.
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Weiterführender Link

www.awmf.org/fileadmin/user_upload/Stellungnahmen/Medizinische_Versorgung/20181205_Medizin_und_Ökonomie_AWMF_Strategiepapier_V1.0mitLit.pdf

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Hartmut Reiners
Mediziner müssen ihre Disziplin selbst hinterfragen

Das Gesundheitswesen ist ein wachsender Wirtschaftszweig. Es ist auch in Ordnung, dass Ärztinnen und Ärzte auf den vorderen Plätzen der Einkommensskala liegen. Aber die Debatte über die Ökonomisierung des Gesundheitswesens ist nicht frei von Heuchelei. Das zeigt die aktuelle Klage von Ärztefunktionären über den Vormarsch von Kapitalanlegern im Gesundheitswesen, zu denen ironischerweise auch ärztliche Versorgungswerke gehören.

Das vor allem auf zahnärztliche MVZ gerichtete Anlegerinteresse wurde durch die von den Zahnärzteverbänden erfolgreich geforderte Ausgliederung von Zahnersatz aus den Sachleistungen der GKV geweckt. Seit 2005 steigen die Erträge von Zahnarztpraxen stärker als deren Umsätze, wobei die Umsatzrenditen von Großpraxen deutlich höher sind als die von Kleinpraxen. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes machen Zahnarztpraxen mit Privatpatienten im Durchschnitt 51,3 Prozent des Umsatzes, ihr Reinertrag liegt bei 175.000 Euro pro Inhaber und Jahr. Praxen mit einem Umsatz von 1 bis 1,5 Millionen Euro haben einen Privatanteil von 57,7 Prozent und einen Reinertrag je Praxisinhaber von 320.000 Euro. Bei einem Umsatz von über 1,5 Millionen Euro liegen diese Werte bei 63,4 Prozent beziehungsweise 377.000 Euro. Solche Profitchancen bleiben den berüchtigten Finanzhaien nicht verborgen. Deren Interesse an den MVZ würde durch die Wiedereingliederung von Zahnersatz in die GKV-Sachleistungen wohl abnehmen, von der Einführung einer Bürgerversicherung ganz zu schweigen.

An der medizinischen Basisversorgung haben Investoren kaum Interesse, weil dort nicht so viel zu verdienen ist. Die Tatsache, dass zum Beispiel mit einer Kardiologenpraxis mehr als doppelt so viel Gewinn erzielt werden kann als mit einer Hausarztpraxis ist Konsequenz einer Geringschätzung der Allgemeinmedizin im deutschen Medizinsystem. Sie hat auf die Ressourcenverteilung im Gesundheitswesen einen mindestens so großen Einfluss wie die Vergütungssysteme, die selbst eher Ausdruck als Ursache der Hegemonie der Fachmedizin in der Medizinergemeinde sind. Das damit verbundene Nebeneinander von Unter- und Überversorgung im Gesundheitswesen ist eine Ressourcenverschwendung, deren Beseitigung ein ökonomischer und ein medizinisch-ethischer Imperativ ist. Es geht sicher auch um die Erwartungen, die von der Gesellschaft an die Medizin gerichtet werden. Aber diese werden von den Medizinern maßgeblich beeinflusst. Sie müssen ihre Disziplin selbst hinterfragen, wenn es um die zutiefst ökonomische Frage eines angemessenen Ressourcenverbrauchs im Gesundheitswesen geht.

ZUR PERSON
Hartmut Reiners ist Gesundheitsökonom und Publizist. Er arbeitete unter anderem im brandenburgischen und nordrhein-westfälischen Gesundheitsministerium sowie im Wissenschaftlichen Institut der AOK (WIdO).
In seinem jüngst erschienenen und vollständig überarbeiteten Buch setzt er sich mit „Mythen der Gesundheitspolitik“ auseinander. Ein Mythos ist für ihn, dass die Ökonomisierung des Gesundheitswesens die Heilkunst zerstöre.
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Weiterführender Link

www.gerechte-gesundheit.de/wissen/literatur/detail/literatur-detail/128.html