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Bereit zum Impfen?

Über Zwänge, Barrieren und Vertrauen

Berlin (pag) – In den vergangenen Wochen war ein Schauspiel mit Déjà-vu-Charakter zu beobachten: wieder einmal Masernausbrüche, wieder einmal der Ruf nach einer Impfpflicht. Dieses Mal scheint die Politik geneigt, eine solche Pflicht tatsächlich zu etablieren. Damit stellt sich die Frage: Löst diese wirklich alle Probleme oder werden dadurch nicht gemachte Hausaufgaben des Systems kaschiert und schlimmstenfalls sogar neue Probleme geschaffen?

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Diverse Politiker, Ärzteorganisationen und andere Experten haben sich in jüngster Zeit zu einer Masern-Impfpflicht geäußert. Der SPD-Politiker Prof. Karl Lauterbach befürwortet sie, ebenso wie die FDP und der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte. Die Grünen lehnen dagegen eine solche Pflicht ab, auch der Präsident des Robert Koch-Instituts (RKI) hält nicht viel davon. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) wiederum befürwortet eine Impfpflicht in Schulen und Kitas. Bereits sein Vorgänger im Amt, Hermann Gröhe (CDU), hatte das Thema auf dem Tisch, nachdem in Berlin ein Kleinkind an Masern gestorben war. Als Konsequenz führte Gröhe eine Impf-Beratungspflicht vor dem Kindergarteneintritt ein. Über deren Wirkung ist bisher öffentlich nichts bekannt. Jetzt ist die Diskussion wieder aufgeflackert – neben Masernausbrüchen dürfte dazu auch beigetragen haben, dass die Weltgesundheitsorganisation jüngst Impfgegner zur globalen Bedrohung erklärt hat.

Impflücken, über die kaum einer spricht

Bei der hektischen und oft auch sehr emotional geführten Debatte über eine mögliche Impfpflicht sind momentan noch viele wichtige Fragen offen. Zum Beispiel: Geht es um eine allgemeine Impfpflicht oder nur um eine für bestimmte Einrichtungen oder Bevölkerungsgruppen? Welche Impfungen sollen miteingeschlossen werden? Um diese Punkte zu klären, ist eine unaufgeregte Analyse notwendig, wo hierzulande überhaupt die drängendsten Impfherausforderungen bestehen. Eine Expertenanhörung des Deutschen Ethikrats hat dazu kürzlich aufschlussreiche Erkenntnisse gebracht.

Der Vortrag von PD Dr. Ole Wichmann, beim RKI für Impfprävention zuständig, macht deutlich, dass die Impfraten von Kindern gegen Masern nur ein Problem von vielen sind – und möglicherweise nicht das schwerwiegendste. Der Experte weist etwa auf den geringen Anteil von Mädchen hin, die gegen potenziell krebsauslösende HPV-Viren geimpft sind. „Wir liegen da mit einer Impfquote bei 14-jährigen Mädchen von 31 Prozent viel zu niedrig, um einen Public-Health-Effekt zu haben.“

Außerdem sei bei der Influenza-Impfung von Senioren der Bundesdurchschnitt der Geimpften von 48 Prozent im Jahr 2008 auf mittlerweile 35 Prozent gesunken – jedes Jahr seien es ein paar Prozentpunkte weniger. Bezogen auf Masern sind es übrigens auch die nach 1970 geborenen Erwachsenen, bei denen der Nationale Aktionsplan „zur Elimination der Masern und Röteln in Deutschland“ besonderen Handlungsbedarf sieht.

Einheitliche Kommunikation? Fehlanzeige

Von der Beratungspflicht zur Impflicht? Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) und sein Vorgänger im Amt, Hermann Gröhe (CDU).
Von der Beratungspflicht zur Impflicht? Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) und sein Vorgänger im Amt, Hermann Gröhe (CDU).

Bei der Anhörung geht es aber nicht nur um Impflücken der Bevölkerung, sondern auch um das hiesige Impfsystem. Bis der Wirkstoff dem Patienten gespritzt wird, sind eine Vielzahl von Akteuren involviert, neben dem Hersteller gehören dazu: das Paul-Ehrlich-Institut, die Ständige Impfkommission, Bundesländer, Gemeinsamer Bundesausschuss, Krankenkassen. Und bei der Kommunikation spielen auch noch Fachgesellschaften, das RKI, die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung sowie die Ärztekammern eine Rolle. Wichmann vermisst in diesem Konzert eine konzertierte Strategie: „Wenn viele Akteure unterschiedlich kommunizieren, trägt das nicht zu einer hohen Akzeptanz bei.“

Die wichtigsten Botschafter

Während bei der Kommunikation möglicherweise (zu) viele mitmischen, sieht es bei der konkreten Umsetzung der Impfung komplett anders aus: Diese obliegt nahezu ausschließlich niedergelassenen Ärzten. Sie sind deshalb auch die wichtigsten Impfbotschafter. Befragungen zeigen, dass es ein entscheidender Faktor für die Akzeptanz der Impfung ist, ob die Patienten von ihrem Arzt darauf angesprochen werden. Doch wie oft passiert das im Praxisalltag? Laut einer Umfrage unter 700 Allgemeinmedizinern mit einer eher positiven Einstellung zum Thema sprechen etwa 60 Prozent ihre Patienten aktiv auf Impfungen an. 80 Prozent erheben bei neuen Patienten routinemäßig den Impfstatus, Infomaterialien legen 90 Prozent aus. Aber: Nur 40 Prozent der Praxisinhaber nutzen Erinnerungssysteme und nur um die 10 Prozent bieten dafür extra Sprechstunden an, zum Beispiel am Abend, um Impfwillige besser zu erreichen.

Zu viele „missed opportunities“

Erreichbarkeit ist ein wichtiges Stichwort, wenn es um Impfhürden im System geht, ein anderes lautet „missed opportunities“. Wichmann vom RKI beschreibt exemplarisch eine solche verpasste Gelegenheit: „Wenn zum Beispiel die Eltern mit dem Kind zum Kinderarzt gehen und dann festgestellt wird, dass sie nicht geimpft sind, dann kann zwar der Kinderarzt häufig impfen, aber nicht abrechnen.“ Vergleichbar ist die Situation, wenn der Gynäkologe feststellt, dass der Ehemann der Patientin keine Keuchhustenimpfung mehr hat. Ob ein so genanntes fachfremdes Impfen erlaubt ist, entscheiden die Kassenärztlichen Vereinigungen.

Es gibt also noch Luft nach oben. „Unser Versorgungssystem muss es noch einfacher machen, geimpft zu werden“, appelliert etwa Prof. Cornelia Betsch, Professorin für Gesundheitskommunikation an der Universität Erfurt (lesen Sie dazu das Interview auf Seite 18). Auf der Ebene der Praxen bedeutet das, Impfen ohne Termin oder Impfsprechstunden am Abend anzubieten. Damit lassen sich Impfwillige besser erreichen als von ihnen zu verlangen, sich gesund und zur Arbeitszeit ins Wartezimmer zu setzen. Als besonders wirksam gelten Erinnerungs- oder Recallsysteme. Lohnenswert ist es sicherlich auch, über eine aktivere Rolle der Betriebsärzte und des Öffentlichen Gesundheitsdienstes (ÖGD) nachzudenken – nach dem Motto: Impfen vor Ort. Beim ÖGD müssten dafür allerdings Infrastrukturen wieder aufgebaut werden, die in der Vergangenheit konsequent kaputt gespart wurden. Noch radikaler wäre es in unserem arztzentrierten System, auch andere Professionen wie Apotheker mit dieser Aufgabe zu betrauen. Solche Vorschläge lösen zwar regelhaft den Widerspruch von Ärztevertretern aus, dennoch plant das Bundesgesundheitsministerium, dass Apotheker künftig die Bevölkerung gegen Influenza impfen dürfen. Das zumindest sieht ein Gesetzentwurf des Ministeriums zur Stärkung der Apotheke vor Ort vor (siehe Infokasten links unten).

Impfpflicht als ultima ratio

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Vieles spricht dafür, eine Impfpflicht erst als ultima ratio zu installieren. Zuvor sollten alle Anstrengungen darauf verwendet werden, das System tatsächlich impffreundlich zu gestalten. Hinzu kommt, dass eine solche Pflicht einen erheblichen Eingriff darstellt. Bei der Anhörung des Ethikrates wird der Vorsitzende des Gremiums, Prof. Peter Dabrock, grundsätzlich. Eine Impfpflicht tangiere im freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat hohe Rechtsgüter: das Persönlichkeitsrecht, das Recht auf die Integrität von Leib und Leben, aber auch die Erwartung an den Staat, Leib und Leben gegen unnötige und effektiv beherrschbare Gefahren zu schützen. „Welche wie eingriffstiefen Mittel darf der Staat einsetzen“, fragt der Theologe.

Akzeptanz nimmt bei Verpflichtung ab

Man kann es sich leicht machen und solche Überlegungen rasch abtun – wie jüngst in einem großen Artikel des „Spiegel“ geschehen. Doch selbst dann muss sich die Politik mit den unbeabsichtigten Nebenwirkungen einer solchen Verpflichtung auseinandersetzen. Studien belegen, dass bei verpflichtenden Impfungen die Akzeptanz für andere Impfungen abnimmt – das wäre eine fatale Entwicklung. Auch warnen Forscher, dass man womöglich das Mittelfeld verliert: jene Personen, die dem Impfen gegenüber zwar nicht unbedingt abgeneigt sind, vielleicht skeptisch denken, aber einem staatlichen Mandat sehr wohl abgeneigt wären. Es gilt daher sehr genau zu überlegen, welche Impfungen eine Pflicht künftig umfassen soll. Wie sieht es mit Strafen oder mit Incentivierungen aus? In Australien etwa gilt die Devise: „No Vaccination, No Pay“, dort sind Sozialleistungen an die Impfung gekoppelt. Wollen wir das hierzulande? Und soll es Ausnahmen geben – wenn ja, für welche Personenkreise?

Niedrige Impfrate wegen Vertrauensmangel?

Bei der Anhörung des Ethikrates wird deutlich: Ein Standardvorgehen für eine Impfpflicht gibt es nicht. Welches der beste Ansatz ist, darüber lässt sich trefflich streiten. Vor diesem Hintergrund sind die Ausführungen der Politologin Dr. Katharina Paul, Universität Wien, bedenkenswert. Sie führt das Ablehnen von Impfungen auf ein Infragestellen staatlicher Autorität, auf einen Vertrauensmangel gegenüber den Institutionen und der Industrie zurück. Ist diese Diagnose zutreffend, so muss bezweifelt werden, ob Zwang der richtige Weg ist, um Vertrauen zu gewinnen.

 

In den USA und anderen Ländern bereits heute möglich: Die Grippeimpfung in der Apotheke. © iStock.com, fstop123

IMPFEN – WEITERE INITIATIVEN DER REGIERUNG
Neben der Diskussion über eine mögliche Impfpflicht ist die Regierung auch anderweitig aktiv: Das Bundesministerium für Gesundheit will es Apothekern künftig ermöglichen, Grippeimpfungen vorzunehmen. Der Referentenentwurf zum „Gesetz zur Stärkung der Vor-Ort-Apotheken“ sieht regionale Modellprojekte mit fünfjähriger Laufzeit vor, für die Apotheker mit den Krankenkassen Verträge abschließen können. Außerdem müssen sie sich vorher ärztlich schulen lassen. Das kürzlich verabschiedete Terminservice- und Versorgungsgesetz schiebt Exklusivverträgen mit einzelnen Herstellern über saisonale Grippeimpfstoffe den Riegel vor. Die Apothekenvergütung wird neu geregelt. Das Gesetz enthält auch für Praxen in Bezug auf die Wirtschaftlichkeit bei der Verordnung saisonaler Grippeimpfstoffe eine wichtige Nachricht: Eine angemessene Überschreitung der Bestellmenge gegenüber den tatsächlich erbrachten Impfungen gilt grundsätzlich nicht als unwirtschaftlich. Unterdessen hat Brandenburg eine Masern-Impfpflicht für Kinder in Kitas beschlossen.

 

Gründe für die Impfentscheidung: das 5C-Modell

Das so genannte 5C-Modell beschreibt die wesentlichen psychologischen Gründe der Impfentscheidung

  1. Confidence beschreibt das Ausmaß an Vertrauen in die Effektivität und Sicherheit von Impfungen, das Gesundheitssystem und die Motive der Entscheidungsträger.
  2. Complacency beschreibt die Wahrnehmung von Krankheitsrisiken und ob Impfungen als notwendig angesehen werden.
  3. Constraints (auch Convenience) beschreibt das Ausmaß wahrgenommener struktureller Hürden wie Stress, Zeitnot oder Aufwand.
  4. Calculation erfasst das Ausmaß aktiver Informationssuche und bewusster Evaluation von Nutzen und Risiken von Impfungen.
  5. Collective Responsibility beschreibt das Ausmaß prosozialer Motivation, durch die eigene Impfung zur Reduzierung der Krankheitsübertragung beizutragen, und damit andere indirekt zu schützen, zum Beispiel kleine Kinder oder Kranke.

 

Die Tabelle ist einem Aufsatz von Prof. Cornelia Betsch u.a. im Deutschen Ärzteblatt (Jg. 116 / Heft 11 / 15. März 2019) entnommen.