Pro und Contra zur Widerspruchslösung
Berlin (pag) – Das Gesetz für bessere Zusammenarbeit und bessere Strukturen bei der Organspende ist in Kraft getreten. Doch die Organspende lässt die Politik nicht los. Jetzt geht es um die Widerspruchslösung – ein Thema, das polarisiert. Prof. Claudia Schmidtke befürwortet diese, Prof. Peter Dabrock lehnt sie ab. Beide haben ihre Position für Gerechte Gesundheit dargestellt.
Eine fraktionsübergreifende Gruppe um Jens Spahn (CDU) und Prof. Karl Lauterbach (SPD) hat im April einen Gesetzentwurf zur doppelten Widerspruchslösung vorgelegt. Mitgearbeitet daran hat auch die CDU-Bundestagsabgeordnete Prof. Claudia Schmidtke. Sie ist überzeugt: „Die Gesellschaft ist bereit für die Annahme einer allgemeinen Organspendebereitschaft.“ Der Theologe Prof. Peter Dabrock lehnt dagegen eine Widerspruchslösung ab, denn: „Ausgerechnet in einer höchstpersönlichen Frage, in der es um Leben und Tod geht, sollen die auch in der Medizin bewährten Rechtsgrundsätze der informierten Einwilligung und der Verhältnismäßigkeit missachtet werden“ – das schaffe kein Vertrauen ins Transplantationssystem. Lesen Sie im Folgenden die Positionen von beiden.
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Prof. Claudia Schmidtke
Widerspruchsregelung stellt Bekenntnis zur Organspende fest
Als Ärztin ist es meine Profession, Leben zu retten, als Politikerin habe ich die Möglichkeit, dies auf gesamtgesellschaftliche Weise zu tun. Aktuell warten circa 10.000 Patientinnen und Patienten auf ein lebenswichtiges Organ. Auch heute sterben wieder drei von ihnen. Ich sehe es als meine Pflicht an, diesen Menschen zu helfen.
Gemeinsam mit Jens Spahn und weiteren Parlamentskolleginnen und -kollegen kämpfe ich deshalb überfraktionell für einen Systemwechsel. Wir haben viele Monate an dem Gesetzentwurf zur Einführung der Widerspruchslösung gearbeitet, am 1. April wurde das Ergebnis vorgestellt: Jede Person ab 16 Jahren soll als Organspender gelten, es sei denn, sie hat zu Lebzeiten aktiv widersprochen oder ihre Angehörigen können den mutmaßlichen Willen gegen eine solche Spende glaubhaft machen. Der Systemwechsel wird eng von einer intensiven Aufklärungskampagne begleitet, in der alle Bürgerinnen und Bürger dreimal kontaktiert und über die neuen Rechtsfolgen informiert werden. Das gab es bisher bei keiner Gesetzesänderung. Zudem wird es ein Register geben, in dem jederzeit barrierefrei und ohne Angabe von Gründen die Entscheidung persönlich hinterlegt und geändert werden kann. Die Freiwilligkeit der Spende bleibt damit in jeden Fall erhalten. Das ist uns wichtig. Grundsätzlich stellt die Widerspruchsregelung das Bekenntnis zur Organspende fest. Und dennoch wird selbstverständlich niemand zur Organspende gezwungen! Der Widerspruch ist jederzeit möglich, auch durch die Angehörigen.
In unserem Land stehen laut Umfrage der BZgA 84 Prozent der Organspende positiv gegenüber, über 70 Prozent würden selbst spenden und ganze 90 Prozent im Ernstfall ein Organ annehmen. Für uns steht damit fest: Die Gesellschaft ist bereit für die Annahme einer allgemeinen Organspendebereitschaft.
Unverantwortlich wäre es dagegen, weiterhin die trauernden Angehörigen der Entscheidung über eine Organspende in einer höchst belastenden Situation auszusetzen. Unethisch ist es auch, Organe aus Ländern zu importieren, in denen die Widerspruchslösung gilt, aber im eigenen Land diese Regelung abzulehnen.
Wir im Deutschen Bundestag sollten auf der Seite der Patienten stehen, die ohne ein rettendes Organ verloren wären. Jeder von uns und jeder unserer Angehörigen kann plötzlich auf ein Spenderorgan angewiesen sein, das dürfen wir nicht vergessen. Gesundheit ist ein Geschenk, das nicht nebensächlich ist. Die Betroffenen haben bereits unerträglich viel Geduld bewiesen – doch noch länger warten, das können sie nicht.
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Zur Person
Die Herzchirurgin wurde im September 2017 als Direktkandidatin in den Deutschen Bundestag gewählt. Sie ist Mitglied im Gesundheitsausschuss und in der Enquete-Kommission „Künstliche Intelligenz“. Vor ihrer politischen Tätigkeit arbeitete Schmidtke zuletzt als leitende Oberärztin und stellvertretende Chefärztin am Herzzentrum Bad Segeberg. Im Januar 2019 wurde sie zur Patientenbeauftragten der Bundesregierung ernannt.
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Prof. Peter Dabrock
Die Widerspruchslösung ist unnötig und schädlich
Die Debatte um die Steigerung der Organspendezahlen ist zu wichtig, um sie mit nicht erfüllbaren Versprechungen und Erwartungen zu belasten. Hören wir deshalb auf, den Menschen ein schlechtes Gewissen zu machen, indem man behauptet: Da sind auf der einen Seite 80 Millionen Bürger:innen und auf der anderen Seite „nur“ 955 Organspender:innen. Die Gesamtbevölkerung ist aber nicht die richtig gewählte Vergleichsbasis. Denn wenn wir 80 Millionen eingetragene Organspendewillige hätten, aber nur 50 Organspender medizinisch identifizieren, können wir nur von diesen die Organe nutzen. Deshalb ist die Vergleichsbasis für die Organspender:innen die Zahl der potentiellen Spender:innen ohne medizinische Kontraindikation. Laut DSO-Jahresbericht 2018 standen den 955 Organspendern „nur“ 1317 potentielle Spender gegenüber. Das ist immerhin eine Organspendequote von über 72 Prozent! Bei 340 gab es keine Zustimmung, 123 Personen wollten explizit nicht spenden. Das bedeutet: Nur bei 217 (!) hätte eine Widerspruchslösung einen „Zugriff“ ermöglicht, der unter dem jetzigen Gesetz nicht erlaubt wäre.
Zur Entzauberung falscher Erwartungen gehört auch: Wir müssen uns nicht mit den hohen Zahlen aus Spanien und Belgien vergleichen. Dort wird auch nach Herztod explantiert. Das will aber bei uns fast niemand. Schließlich, die gestiegene Bedeutung der Patientenverfügungen bringt weniger Menschen in die Situation, überhaupt als potenzieller Organspender identifiziert werden zu können. All das sollte gegen unnötige Moralisierung nüchtern mitbedacht werden.
Vor diesem Hintergrund kann man nur festhalten: Der Plan einer Widerspruchsregelung – auch einer erweiterten – ist unnötig und schädlich. Unnötig, weil – wie alle Erfahrungen zeigen – die eigentlichen Zugewinne bei Spendenzahlen durch Struktur- und Organisationsverbesserungen erfolgen. Deshalb begrüße ich selbstverständlich das kürzlich verabschiedete Gesetz zur Verbesserung der Strukturen und Finanzierung der Organspende – wobei sicher im Vergleich zu anderen Ländern noch mehr getan werden könnte. Schädlich: Ausgerechnet in einer höchstpersönlichen Frage, in der es um Leben und Tod geht, sollen die auch in der Medizin bewährten Rechtsgrundsätze der informierten Einwilligung und der Verhältnismäßigkeit missachtet werden – und das ohne, dass der erhoffte Effekt der Strukturverbesserungen abgewartet wird. Das kann nicht richtig sein, das schafft kein Vertrauen, welches das Transplantationssystem so bitter nötig hat.
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Zur Person
Prof. Peter Dabrock ist evangelischer Theologe und seit 2010 Professor für Systematische Theologie (Ethik) an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Seit 2016 ist er Vorsitzender des Deutschen Ethikrates, dessen Mitglied er seit 2012 ist. Dabrock ist außerdem Mitglied in zahlreichen Fachgesellschaften wie der Societas Ethica und der Akademie für Ethik in der Medizin.