Im Gespräch

Kontroverse um Krankenhausabrechnungen

Ein Streitgespräch mit Dirk Balster und Dr. Axel Meeßen

Berlin (pag) – Im Streit um Krankenhausabrechnungen sind MDK und Krankenhäuser erbitterte Kontrahenten. Umso überraschender, dass bei einem von Gerechte Gesundheit und der Arbeitsgemeinschaft kommunaler Großkrankenhäuser organsierten Streitgespräch auch gemeinsame Positionen entdeckt werden. Dirk Balster vom Klinikum Chemnitz und Dr. Axel Meeßen vom MDK Berlin Brandenburg über ein krankes System und Reformversuche des Gesetzgebers.

Die Kontrahenten des Streitgesprächs: Dirk Balster (im Foto links) ist kaufmännischer Geschäftsführer des Klinikums Chemnitz. Er ist Wirtschaftswissenschaftler und hat unter anderem bei Roland Berger deutschlandweit Projekte im Krankenhaussektor geleitet. Dr. Axel Meeßen ist Geschäftsführer des MDK Berlin-Brandenburg. Zuvor war er unter anderem beim GKV-Spitzenverband. Er kennt aber auch die andere Seite: Herr Meeßen ist Arzt und hat in der Chirurgie, Orthopädie und Medizininformatik gearbeitet. © pag, Fiolka

 

Die Lobby fährt bei den Krankenhausabrechnungen schweres Geschütz auf. Selbst der Minister spricht von Irrsinn und Wahnsinn. Wie wirkt sich das auf die Zusammenarbeit vor Ort aus? Wird der Ton rauer?

Balster: Der ist seit mehreren Jahren mehr als rau. Wir haben eine sehr angespannte Situation.

Und bei Ihnen, Herrn Meeßen?

Meeßen: Natürlich geht es kontrovers zu. Aber das Eine ist, in der Sache hart zu sein und das Andere, trotzdem respektvoll miteinander umzugehen. Und das erwarte ich von allen Beteiligten.

Der GKV-Spitzenverband verkündet immer wieder, dass jede zweite geprüfte Krankenhausabrechnung falsch sei. Rechnen die Kliniken wirklich so viel falsch ab?

Meeßen:Jeder der Beteiligten – Krankenhaus, Kasse und MDK – verhält sich aus der Innensicht des Systems absolut logisch und nachvollziehbar, weil bestimmte Anreize gesetzt werden. Aus der Außensicht ist das System an manchen Stellen krank.

Balster: Aus meiner Sicht ist das System sogar am Ende. Wir verbrennen unsere Fachkräfte in Dokumentation, Verteidigung und Abrechnung. Die Gesetzgebung verschärft den Pflegemangel. Um zusätzliche Erlöse zu generieren, versuchen die Kliniken, neue Bereiche aufzubauen. Dabei stehen wir in einem Hyperwettbewerb um Fachkräfte. Der Personalmarkt stellt eine immense Belastung für die Krankenhäuser dar. Und auf der anderen Seite begegnet uns der MDK mit 2.100 Vollzeitkräften, von denen ungefähr die Hälfte in der Abrechnungsprüfung beschäftigt sind. Wir Kliniken befinden uns in der Defensive.

Fast jedes zweite Krankenhaus stockt das Personal fürs Codieren auf. Beim MDK sieht es nicht viel anders aus. Immer mehr Ressourcen fließen in Überwachung und Kontrolle. Wie lange geht das noch so weiter?

Meeßen: Vollkommen richtig ist, dass das System kompliziert ist. Wir haben zig Codes für Krankheiten und Prozeduren. Die Gemeinsame Selbstverwaltung legt fest, wann was und wie codiert werden kann und darf. Und die Kalkulationshäuser bilden die Realität für die deutsche Kliniklandschaft ab. Das Ziel ist ja nicht, den Krankenhäusern weniger Geld zu geben, als da ist. Eigentlich müsste jedes Krankenhaus eine adäquate Vergütung bekommen, wenn es den Aufwand abgebildet über Krankheit und Maßnahmen codiert angibt.

Aber?

Meeßen: Es gibt Lücken. Eine ist die fehlende Investitionskostenfinanzierung durch die Länder. Die fehlt in den Kliniken und muss aus den DRGs gedeckt werden, die dafür nicht kalkuliert sind.

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Was sind weitere Lücken?

Meeßen: Alle reden von Digitalisierung. Das sind Zusatzinvestitionen. Ich sehe nicht, dass die Länder den Krankenhäusern dafür zusätzlich Geld geben. Am schlimmsten ist aus meiner Sicht aber, dass die privaten Häuser – immerhin ein Drittel aller Kliniken – versuchen, zehn Prozent ihres Gewinns an die Aktionäre abzugeben. Dabei ist unsere Krankenhauslandschaft ein Teil der Daseinsvorsorge. Es ist daher ein fataler Fehler, die Kliniken in den Markt zu schicken.

Bleiben wir noch bei der Abrechnung. Wie viel Interpretationsspielraum gibt es bei den Codier-Richtlinien?

Balster: Hundertprozentig sauber beschrieben ist das nicht. Ein weiteres Problem ist: Die Krankenkassen trennen ganz klar zwischen dem Budget-Verhandlungsteam und dem Abrechnungsteam. Und die Abrechner interessieren sich zunehmend nicht mehr dafür, was das Budget-Team vorher verhandelt hat. Beispielsweise wurde zur Versorgungssicherung in der Onkologie ein teilstationärer Satz plus Zusatzentgelt für die Chemotherapien vereinbart. Der MDK sagt aber, dass es keine Indikation für einen teilstationären Fall gebe. Wir bekommen also die 300 Euro für den teilstationären Satz nicht – was nicht weiter schlimm ist. Allerdings haben wir den Patienten mit Medikamenten für 4.000 bis 5.000 Euro versorgt. Die werden nicht bezahlt. Der MDK ist da ein seelenloses, weil starres, Prüfinstrument.

Herr Meeßen, wie seelenlos ist der MDK?

Meeßen: „Seelenlos“ hört sich negativ an. Zu viel Seele und Menschlichkeit würden zu viel Interpretationen ermöglichen. Eine positive Seite der Seelenlosigkeit ist, dass wir überprüfen, ob es verbindliche Regeln gibt und wie diese anzuwenden sind. Unsere bundesweite Abrechnungsgruppe überprüft wiederkehrende Konflikte und gibt Empfehlungen, die auch veröffentlicht werden. Das sind Maßnahmen, um Interpretationsspielräume zu reduzieren.

Aber im Grunde haben die Krankenhäuser doch keine Planungssicherheit. Sie behandeln Patienten, schreiben Rechnungen und wissen am Ende nicht, ob sie wirklich das Geld bekommen.

Meeßen: Das sehe ich etwas anders, schließlich gibt es für die Kliniken keinen ökonomischen Anreiz, richtig abzurechnen. Daher sagt derjenige, der das bezahlen muss: „Das möchte ich jetzt aber gerne wissen.“ Die Kassen bekommen allerdings immer weniger medizinische Daten von den Patienten. Die MDK-Gutachter haben die Aufgabe, Prozeduren und Abrechnung anzusehen, um zu kontrollieren, ob es Probleme gab. Wir sind ziemlich berechenbar bei der Frage, was für uns strittig ist und was nicht. Mein Anspruch ist, dass es keine Überraschung gibt und dass die Krankenhäuser im Vorhinein wissen, wie wir die Sache einschätzen werden.

Seelenlos, aber berechenbar.

Meeßen: Das ist die positive Seite von Seelenlosigkeit.

Herr Balster, das erleben Sie anders?

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Balster: Ein konkretes Beispiel für eine Rechnungssituation: Bei der Abrechnung der Schlaganfall-Komplexpauschale muss die Temperatur beim Patienten regelmäßig gemessen werden, auch in der Nacht ist er dafür zu wecken. Eine fehlende Temperaturabnahme nachts um zwei Uhr führt dazu, dass die Pauschale nicht gezahlt wird. Da stelle ich mir schon die Frage nach der Sinnhaftigkeit der Prüfung. Das gleiche gilt für die Strukturmerkmalprüfung.

Inwiefern?

Balster: Stichwort Pränatalmedizin: Unser Klinikum hat die einzige Frühchenstation Level 1 im Umkreis von 80 Kilometern. Der MDK wollte uns über zwei Jahre diese Bezeichnung nicht zuerkennen, weil zwei oder drei Mal im Betrachtungszeitraum die pflegerische Besetzung in der Nacht nicht den Strukturmerkmalen entsprochen hätte. In der Konsequenz hätte dies zur Folge gehabt, dass die Versorgung in Chemnitz eingestellt worden wäre und 500 Gramm schwere Babys durch das Land nach Dresden oder Leipzig gefahren werden. Was ist der Sinn der Rigidität eines solchen Prüfverfahrens? Geht es den Kassen um Strukturpolitik?

Meeßen: Bei der Selbstverwaltung werden bestimmte Regeln vereinbart. Wenn ein bestimmter Parameter immer zu erfüllen ist, dann muss er eben auch immer erfüllt werden. Als Krankenhausträger würde ich gerne Vereinbarungen treffen, bei denen der Parameter in 98 Prozent der Fälle zu erfüllen ist – und intern strebe ich 100 an. Dann sind die zwei Prozent, bei denen etwas vergessen wird, nicht so schlimm. Ein systematisches „Vergessen“ wäre gleichzeitig so nicht möglich.

Balster: Am Ende des Tages bleibt doch die Frage, welche Zielsetzung die Krankenkasse verfolgt. Bei einer bundesweit tätigen Ersatzkasse wussten wir uns vor vier Jahren nicht mehr anders zu helfen, als 1.750 Fälle an einem Tag zu Gericht zu tragen. Mittlerweile ist davon etwa die Hälfte der Fälle mit 55 Prozent des Streitwertes – das sind etwa 1,5 Millionen – entschieden. Unsere Verfahrenskosten liegen bei rund 760.000 Euro und die der Krankenkassen vermutlich auch. Das heißt, dass wir mit dem Versuch uns anzunähern bereits 1,5 Millionen Euro zu Anwälten und Gerichten getragen haben.

Geld, das in der Versorgung fehlt. Der Bundesrechnungshof kritisiert diese Mechanismen, die zu Lasten der Patienten gehen. Ist das auch in Ihrem Haus so?

Balster: In meiner Region spüren wir einen massiven Fachkräftemangel beim Ärztlichen Dienst. Hinzu kommen Dokumentationspflichten, die die Mediziner davon abhalten, ihren ärztlichen Pflichten nachgehen zu können.

Das heißt, sie müssen sich überlegen, ob der Arzt jetzt dokumentiert oder am Patientenbett steht.

Balster: Ja.

Kommen wir zum MDK-Reformgesetz. Wird damit das kranke System geheilt? Und kommen Sie, Herr Balster, damit aus Ihrer Verliererposition heraus?

Balster: Das Gesetz bringt sicherlich Verbesserungen mit sich, die aber nicht maßgeblich helfen werden. Dennoch haben wir die Hoffnung, dass eine Neutralisierung des MDKs hilfreich sein könnte.

Herr Meeßen, Sie werden demnächst völlig unabhängig von den Krankenkassen. Was ändert sich für Sie?

Meeßen: An der Arbeit unserer Gutachter ändert sich nichts, denn nicht ich oder der Verwaltungsrat machen diese Arbeit. Die organisationsrechtlichen Änderungen beeinflussen die Gutachter überhaupt nicht.

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Im Verwaltungsrat sitzen künftig auch Patienten- und Pflegevertreter.

Meeßen: Diejenigen, die im Verwaltungsrat sitzen, haben nichts mit der inhaltlichen Arbeit zu tun. Bereits heute ist das ganze operative Geschäft in der Verantwortung der Geschäftsführung und des leitenden Arztes – und nicht in der des Verwaltungsrates. Durch das Gesetz wird sich im operativen Tun nichts verändern.

Die Strukturprüfungen haben im vergangenen Jahr für viel Wirbel gesorgt. Der Gesetzgeber plant daher einige Änderungen, wie bewerten Sie diese?

Meeßen: Für die Kliniken soll das Geschäft berechenbarer werden. Heute werden die Anforderungen teilweise im Einzelfall geprüft – und auch nach der Leistungserbringung. Das Ganze soll jetzt umgedreht werden: Das Krankenhaus lässt die Anforderungen vorab vom MDK prüfen, holt sich einen Stempel, geht damit zu den Kassen und fordert die Leistung in der Budgetverhandlung. Solange sich an den Voraussetzungen nichts ändert, hat es damit die Gewähr, dass die Leistung bezahlt wird.

Eine gute Idee, Herr Balster?

Balster: Grundsätzlich ja. Gleichzeitig muss aber auch gesehen werden, wie diese Anforderungen zu realisieren sind. Und es muss geklärt werden, welche Risiken dadurch für die weitere Versorgung entstehen. Die Strukturprüfungen dürfen nicht die Versorgung gefährden.

Meeßen: Eine wichtige Grundsatzfrage bleibt übrigens ungeklärt: Private Kliniken müssen für ihren Träger Gewinn machen. Aber in der Logik unseres Systems ersetzen DRGs den Aufwand. Wie kann man einen Gewinn abziehen und gleichzeitig korrekt seinen Aufwand abrechnen?

Balster: Da sind wir einer Meinung. Als kommunales Großkrankenhaus betreiben wir Daseinsvorsorge und tragen in der Region die  Verantwortung. Elf Millionen Euro ergebniswirksame Abschreibungen für Investitionen, die wir für die Patientenvorsorge getätigt haben, müssen wir refinanzieren. Durch private Krankenhausbetriebe und -ketten werden Mittel aus dem System gezogen. Und auf die grundsätzliche Frage, welche Krankenhausstruktur nachhaltig und dauerhaft finanzierbar ist, haben wir hierzulande noch keine Antwort gefunden.

Herr Balster, zum Abschluss unseres Gesprächs stellen Sie sich bitte vor, Herr Meeßen würde einige Tage bei Ihnen hospitieren. Was wäre das größte Aha-Erlebnis für ihn?

Balster: … dass es das Prinzip der bewussten Falschabrechnung nicht gibt. Das gibt es nicht in unserem Haus, den Versuch würden wir gar nicht wagen. Wir machen Right-Coding und versuchen die Leistungen, die wir erbracht haben, abzurechnen. Für Sie, Herr Meeßen, wäre es sicher auch interessant zu sehen, wie viele Leistungen, die wir erbracht haben, mit null vergütet werden.

Herr Meeßen, was wäre das Wichtigste, das Herr Balster im MDK lernen könnte?

Meeßen: Sie bekommen mit, wie es möglich ist, dass man sich über grundsätzliche Dinge, bei denen man auseinander liegt, verständigt und festlegt, wie es künftig gehandhabt wird. Wenn uns das System schon unlösbare Aufgaben gibt, sollten wir versuchen, es so gut wie möglich hinzubekommen. Ich wäre für Rahmenbedingungen dankbar, die den Kliniken ökonomische Anreize setzen, richtig abzurechnen. Bei korrekter Abrechnung könnte man den Aufwand herunterfahren und mehr Leute könnten in die Versorgung zurück. Denn auch das würden Sie bei uns mitnehmen: Um jede Stellenmehrung im ärztlichen Bereich tut
es mir für die Versorgung weh.

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On and off the record Das Streitgespräch zwischen Dr. Axel Meeßen und Dirk Balster ist Teil der Veranstaltung „MDK-Prüfungen – Wettrüsten im Krankenhaus“, zu der Gerechte Gesundheit und die Arbeitsgemeinschaft kommunaler Großkrankenhäuser eingeladen haben. Moderation: Lisa Braun und Antje Hoppe. Nach dem Streitgespräch gab es eine angeregte Diskussion mit den geladenen Gästen. Diese ist jedoch off the record – und damit nicht Teil unserer Berichterstattung.