Das steckt hinter dem Abrechnungsstreit
Berlin (pag) – Erbittert wird in Deutschland um Krankenhausabrechnungen gestritten – auf der einen Seite die Krankenkassen und ihre Medizinischen Dienste (MDK), auf der anderen die Krankenhäuser. Der Ton zwischen ihnen ist rau, die Bandagen sind hart. Verursacht wird die Auseinandersetzung durch einen tiefer sitzenden, ungelösten Systemkonflikt.
Zwischen dem Streit um Krankenhausabrechnungen und dem Kalten Krieg bestehen erstaunlich viele Parallelen: Wir erleben einen Systemkonflikt, Polarisierungen, Stellvertreterkonflikte und einige Nebenkriegsschauplätze. Man könnte sich sogar bei der Klagewelle des vergangen Herbstes und dem daraufhin einberufenen Krisengipfel im Bundesgesundheitsministerium (BMG), an dem Kassen- und Klinikvertretern teilnehmen, an die Kubakrise erinnert fühlen.
Der Krisengipfel beim Minister wurde einberufen, nachdem sich im November vergangenen Jahres die Sozialgerichte innerhalb kürzester Zeit mit zehntausenden Klagen von Krankenkassen auf Rückzahlung abgerechneter Krankenhauskosten konfrontiert sahen. Auslöser dieser Klagewelle: ein Passus im Pflegepersonal-Stärkungsgesetz, der die Rückforderungsansprüche der Kassen gegen die Krankenhäuser rückwirkend von vier auf zwei Jahre verkürzt. Eine Übergangregelung lässt den Kassen bis zum 9. November 2018 Zeit, um Ansprüche, die vor dem 1. Januar 2017 entstanden waren, gerichtlich geltend zu machen. Der daraufhin einsetzende Klage-Tsunami konterkariert die eigentliche Intention des Gesetzgebers, nämlich für mehr Rechtsfrieden zu sorgen.
Zoff um Strukturmerkmale
Zuvor hat nämlich insbesondere die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) für böses Blut zwischen Kassen und Krankenhäusern gesorgt. Dabei geht es unter anderem um eine für die Schlaganfallbehandlung notwenige Strukturvorgabe: Eine Neurochirurgie muss entweder im Haus oder innerhalb von 30 Minuten erreichbar sein. Das BSG legt fest: „Dieser Zeitraum beginnt mit der Entscheidung, ein Transportmittel anzufordern, und endet mit der Übergabe des Patienten an die behandelnde Einheit des Kooperationspartners.“ Die Krankenhäuser haben bislang die 30 Minuten gemäß der Angaben des DIMDI auf die reine Transportzeit, Fahrzeit des Rettungswagens oder Flugzeit des Rettungshubschraubers, bezogen.
Dazu muss man wissen: Manche Leistungen im Krankenhaus werden anhand von sogenannten Komplexcodes abgerechnet. In ihnen sind bestimmte Strukturmerkmale enthalten, die das Krankenhaus erfüllen muss. Strukturmerkmale könne etwa die Anzahl und die Qualifikation beim Personal betreffen. Die Ausgestaltung von Komplexcodes erfolgt in der Zeit von April bis September für das folgende Jahr, federführend ist das DIMDI. Viele Komplexcodes sind – zum Teil erheblich – entgeltrelevant, erläutert der GKV-Spitzenverband in einem Positionspapier. Darin heißt es auch: „Die Prüfung der Krankenhausabrechnung von Komplexbehandlungen war besonders im Jahr 2018 streitbefangen.“
„Misstrauenskultur“ und „Falschabrechner“
Streitbefangen klingt fast noch harmlos angesichts der zahlreichen und erbitterten Auseinandersetzungen und Klagen, die landauf und landab um Krankenhausabrechnungen geführt werden. Entsprechend rau ist der Ton bei den Lobbyisten in Berlin. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft etwa konstatiert, dass das Prüfsystem für Krankenhausabrechnungen „außer Kontrolle“ geraten sei. Es sei geprägt von einer überzogenen Misstrauenskultur durch die Krankenkassen, während sich die Kliniken in einer systematischen Verliererposition befänden. Naturgemäß anders sieht der Medizinische Dienst der Krankenversicherung die Lage. Er prüft im Auftrag der Kassen die Klinikrechnungen. Andreas Hustadt, Geschäftsführer des MDK Nordrhein, befürchtet angesichts einer sehr heterogenen Abrechnungsqualität der Kliniken, „dass das Ziel der richtigen und gerechten Vergütung im Krankenhausbereich verfehlt wird“. Der GKV-Spitzenverband wiederum hat den Eindruck, dass „Falschabrechner“ geschützt werden, da Krankenhäuser und Politik sich ausschließlich auf Prüfquoten der Krankenkassen fokussierten, die als Stein des Anstoßes gelten.
Wahnsinnig oder nachvollziehbar?
So ganz falsch scheint der Kassenverband mit seiner Einschätzung nicht zu liegen, immerhin warf Bundesgesundheitsminister Jens Spahn den Kassen auf dem Deutschen Krankenhaustag 2018 vor, mit „Irrsinn, Starrsinn und Wahnsinn“ unterwegs zu sein. Verhalten sich die Kassen tatsächlich so irrational? Diese Diagnose ist nicht zutreffend, denn tatsächlich agieren alle Beteiligten höchst rational und folgen den Spielregeln des Systems: Die im Wettbewerb stehenden Krankenhäuser sind angesichts der unzureichenden Investitionskostenfinanzierung der Länder darauf angewiesen, aus DRGs und Zusatzentgelten zusätzliche Eigenmittel zu generieren. Bei den Kassen läuft der Wettbewerb vor allem über die Zusatzbeiträge. Der unterschiedliche Erfolg der Abrechnungsprüfung hat wiederum Einfluss auf die Höhe der jeweiligen Beiträge, wie unlängst der Bundesrechnungshof festgestellt hat.
Dr. Axel Meeßen, Geschäftsführer des MDK Berlin-Brandenburg, bringt das Problem wie folgt auf den Punkt. Auf einem von Gerechte Gesundheit veranstalteten Streitgespräch (lesen Sie dazu Seite 12) sagt er: „Jeder der Beteiligten – Krankenhaus, Kasse und MDK – verhält sich aus der Innensicht des Systems absolut logisch und nachvollziehbar, weil bestimmte Anreize gesetzt werden.“ Aus der Außensicht sei das System an manchen Stellen krank. Sein Kontrahent an dem Abend, Dirk Balster, findet sogar, dass das System „am Ende“ sei, so der kaufmännische Geschäftsführer des Chemnitzer Klinikums.
Systembedingtes Wettrüsten
Im Unterschied zum ambulanten Sektor, wo die Kassenärztlichen Vereinigungen das Honorar der Ärzte von den Kassen mit befreiender Wirkung erhalten und selbst verteilen, findet im stationären Sektor mittlerweile ein systembedingtes Wettrüsten statt. Balster sagt: „Wir verbrennen unsere Fachkräfte in Dokumentation, Verteidigung und Abrechnung.“ Der aktuellen Krankenhauscontrolling-Studie zufolge gibt fast jedes zweite Krankenhaus (47 Prozent) an, in den letzten drei Jahren einen Personalzuwachs bei Codierfachkräften zu verzeichnen. Ähnlich sehe es beim MDK-Management aus, wo 37 Prozent der Häuser Personal aufstocken.
Auf der anderen Seite der MDK: 15 Dienste mit insgesamt fast 10.000 Mitarbeitern. Diese haben im vergangenen Jahr 5.729.000 sozialmedizinische Empfehlungen für die Krankenversicherung erstellt, davon 2.580.000 Krankenhausabrechnungsprüfungen. Beim MDK Baden-Württemberg gibt es eine sozialmedizinische Expertengruppe, die sich speziell mit Vergütung und Abrechnung beschäftigt und Codierempfehlungen formuliert. Nicht bekannt ist, wie viel Ressourcen und Personal die Kassen darüber hinaus selbst in den Kampf um Krankenhausabrechnungen stecken.
Auf dem Rücken der Patienten
Das Fatale an diesem Wettrüsten ist, dass sich die dadurch gebundenen finanziellen und personellen Kapazitäten zunehmend zu Lasten der Patientenversorgung auswirken. Das kritisiert der Bundesrechnungshof in einem aktuellen Bericht zu dem Thema. Darin schätzt er, dass alle Krankenkassen in 2016 Rückforderungen von 2,2 Mrd. Euro durchsetzten. Dem stand im GKV-System ein vermuteter Aufwand von knapp 800 Millionen Euro gegenüber. Hinzu kommt Aufwand bei den Krankenhäusern, den der Bundesrechnungshof nicht beziffern kann.
Der Gesetzgeber hat Handlungsbedarf erkannt und will mit dem MDK-Reformgesetz gegensteuern. Es sieht eine Reihe von Änderungen bei den Rechnungsprüfungen vor, außerdem soll der MDK unabhängig von den Krankenkassen werden. Sowohl Kassen als auch Krankenhäuser können in dem Gesetzentwurf zwar positive Aspekte erkennen, doch das Problem der widersprüchlichen Systemanreize bleibt weitgehend ungelöst.
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So beschreibt der Bundesrechnungshof den Systemkonflikt
Krankenhäuser betreiben zur Optimierung ihrer Abrechnungen gegenüber Krankenkassen einen hohen Aufwand, der zunehmend auch ärztliches Personal bindet. Notwendige Investitionen erhöhen den Druck, bei Krankenhausabrechnungen möglichst „hoch zu codieren“ – auch, um sich gegenüber anderen Krankenhäusern Wettbewerbsvorteile zu verschaffen. Hinzu kommt, dass Krankenhäuser keine monetären Sanktionen befürchten müssen, wenn sie zu viel abrechnen. Auch dies schafft Anreize, die Möglichkeiten des DRG-Systems auszuschöpfen.
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Bei Krankenkassen besteht eine vergleichbare Situation. Sie betrachten Abrechnungsprüfungen und die erzielten Rückzahlungen ebenfalls als besonders wettbewerbsrelevant. Eine Ausweitung der Prüfungen lohnt sich grundsätzlich, weil dadurch noch mehr fehlerhafte Abrechnungen identifiziert und weitere Rückzahlungen erzielt werden. Allerdings werden die Krankenkassen durch die Aufwandspauschalen an die Krankenhäuser in den Fällen belastet, in denen die Überprüfung zu keiner Minderung des Abrechnungsbetrages führt. Diese Zahlungen beliefen sich im Jahr 2016 auf 144,5 Millionen Euro.