Wirksame Rezepte gegen Überversorgung gesucht
Berlin (pag) – Wie rückt man überflüssigen Untersuchungen und Therapien zu Leibe? Einige ärztliche Initiativen gehen das Problem im Sinne von „Choosing wisely“ an. Aber reicht das aus? Zu beobachten ist: Je konkreter Beispiele für ein Zuviel an Medizin benannt werden, mit umso härteren Bandagen wird gekämpft.
Einen entscheidenden Schub, um der Überversorgung Herr zu werden, erhofft sich Prof. David Klemperer, Ostbayerische Technische Hochschule Regensburg, von einer Enquete-Kommission. Diesen Vorschlag macht er bei einer Tagung der Bertelsmann Stiftung. Einen Titel für die Kommission hat er sich auch schon ausgedacht: „Patientenwohl – Ethik und Ökonomie in der Patientenversorgung“ schlägt er vor. Dabei stellt der Mediziner klar: „Das Problem ist nicht, dass wir im Gesundheitswesen wirtschaften müssen, sondern mit welchem Ziel wir wirtschaften.“ Klemperer zufolge sollte Überversorgung nicht das einzige Thema der Enquete-Kommission bleiben, auch die Strukturreform der Krankenhauslandschaft und die Überwindung der Sektorengrenzen könnten auf der Agenda stehen.
Ursachen von „overuse“
Bei der Tagung diskutieren Experten darüber, ob Deutschland mehr „Choosing wisely“ braucht. Schnell wird deutlich, dass Überversorgung ein komplexes Thema ist. Es gebe keine verallgemeinernden Ursachen, sagt etwa Hans-Dieter Nolting vom IGES Institut, der im Auftrag der Bertelsmann Stiftung eine Literaturrecherche dazu gemacht hat. Konkreter wird dagegen Frederico Guanais von der OECD. Für Ursachen von „overuse“ nennt er drei Kategorien:
- Don´t know better, im Sinne von Wissensdefiziten, was Guanais auf der individuellen Ebene ansiedelt.
- Can´t do better: Hierzu nennt er Stichwörter wie schlechtes Management, unzureichende Koordination und Organisation.
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Stand to loose doing better: Was verliert der Arzt, die Abteilung oder die Klinik, wenn sie es besser machen? Reputation? Einfluss? Geld?
Guanais differenziert bei seiner Analyse ferner zwischen der Anbieter- und der Nachfragerseite. Er kritisiert, dass Patienten an der Diskussion (bisher) noch nicht beteiligt seien.
Wo liegt das richtige Maß?
Die OECD ist Überversorgung schon länger auf der Spur. Vor drei Jahren publizierte sie die Analyse „Tackling Wasteful Spending on Health“. Darin geht es unter anderem um „wasteful clinical care“ und um Verschwendungen bei Arzneimitteln. „Health at a glance 2019“ ist zu entnehmen, dass im OECD-Vergleich hierzulande die meisten MRI-Untersuchungen durchgeführt und künstlichen Hüftgelenke eingesetzt werden. Vieles spricht dafür, dass in diesen Bereichen eine Überversorgung besteht – aber wo liegt das angemessene Maß? Darauf gibt es keine einfachen Antworten. Hinzu kommt, wie Nölting betont, dass keineswegs immer Konsens besteht, ob tatsächlich zu viel behandelt wird. Wie weit die Meinungen auseinandergehen können, zeigt sich unmittelbar im Anschluss an die Tagung. In einer Mitteilung nennt die Bertelsmann Stiftung Ultraschalluntersuchungen zur Früherkennung von Eierstockkrebs als ein Beispiel für Überversorgung. Dabei handelt es sich um eine IGeL-Leistung, auf sie wird in der Untersuchung von Nölting eingegangen. Dabei verweisen die Autoren auch auf Informationen des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit des Gesundheitswesens (IQWiG). Daraufhin kritisieren der Berufsverband der Frauenärzte und die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe die Angaben des Instituts als überholt. Von Fake News ist die Rede. Das IQWiG wehrt sich wiederum dagegen. Dieser Schlagabtausch lässt den medizinischen Laien ratlos zurück.
Die DeGAM will schützen
Unterdessen hat die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin (DeGAM) eine Leitlinie zum „Schutz vor Über- und Unterversorgung“ vorgestellt. Deutliches Augenmerk liegt dabei auf Überversorgung, womit sich 21 Empfehlungen beschäftigen. Lediglich fünf widmen sich der Unterversorgung. Ein Zuviel an Medizin gibt es laut DeGAM unter anderem bei Antibiotika, Medikamenten mit kritischem Nutzen-Risiko-Profil, nicht notwendigen diagnostischen Maßnahmen wie Bildgebung, Laboruntersuchungen oder invasiven diagnostischen Prozeduren. Auch von drei Screenings wird abgeraten: PSA-Screening, Hautkrebs-Screening und Screening auf schädlichen Alkoholgebrauch. Ein Zuwenig an Medizin sehen die Experten etwa beim systematischen Case Finding von Depressionen bei entsprechender klinischer Symptomatik, bei der Dokumentation des Raucherstatus bei Patienten mit Husten sowie bei der Beachtung von gesundheitlichen Problemen Angehöriger von Patienten mit Demenz.
Das Besondere an der Leitlinie: Sie umfasst die Empfehlungen aller anderen DEGAM- und Nationalen Versorgungs-Leitlinien, die einen Bezug zur Über- und Unterversorgung haben. Laut DeGAM beinhaltet die Guideline ausschließlich Empfehlungen aus Leitlinien, die der Entwicklungsstufe 3 der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften entsprechen. Negative Resonanz gab es auf die Initiative keine, teilt die DeGAM per Nachfrage mit. Ob das daran liegt, dass keine IGeL-Leistungen genannt wurden?
Prioritäten geraderücken
Flankierend zur neuen Leitlinie fordert DeGAM-Präsident Prof. Martin Scherer ein Primärarztsystem: Der Zugang des Patienten zur nächst höheren Versorgungsebene – dem Krankenhaus – soll über den Hausarzt laufen. „Wir müssen Patienten vor Überversorgung schützen“, mahnt er und berichtet von Kliniken, die gesunde Patienten „rekrutieren“. Der Direktor des Instituts für Allgemeinmedizin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf fordert ein Umdenken, „im Gesundheitswesen müssen die Prioritäten geradegerückt werden“. Konkret meint er damit: weg von teuren „Pseudoinnovationen“, weniger Gerätemedizin und mehr Kommunikation. Kann er damit bei der Politik landen? Ein Gesundheitsminister, der Apps auf Rezept verschreiben lässt und grundsätzlich als sehr innovationsfreudig gilt, mache es nicht einfacher, sagt Scherer.