Prof. Jan Schildmann: „Empfehlungen werden zeitnah weiterentwickelt“

Nachgefragt bei Prof. Jan Schildmann, Medizinethiker

 

Ihre Empfehlungen dürften auch eine Reaktion auf die Ereignisse in Italien und anderen Ländern darstellen. Als zentrales Zuteilungskriterium wird in Ihrer Empfehlung die medizinische Erfolgsaussicht genannt. Was bedeutet das konkret? Und wie einhellig fiel das Votum der 14 Autorinnen und Autoren dafür aus?

Prof. Jan Schildmann: Wichtig war uns, auch angesichts des zum Zeitpunkt der Veröffentlichung bestehenden Fehlens von Richtlinien beziehungsweise Empfehlungen in Deutschland, zunächst einmal mögliche Kriterien und Verfahrensweisen transparent vorzustellen. Unabhängig von den zur Verfügung stehenden Maßnahmen muss zunächst einmal kritisch geprüft werden, ob eine intensivmedizinische Therapie indiziert ist und ob diese unter Berücksichtigung der Erfolgsaussicht vom Patienten gewünscht wird. Wenn beides bejaht wird und nicht ausreichend intensivmedizinische Ressourcen zur Verfügung stehen, soll nach Einschätzung aller Autoren geprüft werden, bei welchem Patienten die zur Verfügung stehenden Therapieoptionen am ehesten einen Erfolg haben werden. Dies bedeutet konkret, dass die höhere Überlebenswahrscheinlichkeit und die Gesamtprognose relevant für die Entscheidung sind.

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Warum haben Sie das Alter als Priorisierungskriterium ausgeschlossen?

Schildmann: Das Alter ist im klinischen Alltag ja ein vielschichtiges Kriterium. Es wird zum Beispiel manchmal vom „biologischen Alter“ gesprochen und damit auf den Gesundheitszustand abgehoben. Der Gesundheitszustand und beispielsweise Vorerkrankungen sind relevant für die Erfolgsaussicht der Therapie. Das kalendarische Alter ist zwar häufig, aber eben nicht zwangsläufig mit einem schlechten Gesundheitszustand verbunden. Das kalendarische Alter und andere soziale Merkmale wurden aufgrund des Gleichheitsgrundsatzes als Priorisierungskriterien ausgeschlossen.  

Aus verfassungsrechtlichen Gründen dürfen Menschenleben nicht gegen Menschenleben abgewogen werden. Aber auch die Behandlungsressourcen gilt es gerade in Krisenzeiten verantwortungsvoll einzusetzen. Ist dieser Widerspruch überhaupt auflösbar?

Schildmann: Was die rechtlichen, offensichtlich unterschiedlichen Einschätzungen angeht, kann ich dies als Arzt und Medizinethiker zunächst einmal nur zur Kenntnis nehmen. Letztlich sind Entscheidungen in einer Situation nicht ausreichender Ressourcen tragisch und insofern ist auch der damit verbundene Konflikt nicht auflösbar.

Wie praxistauglich sind Ihre Empfehlungen?

Schildmann: Das ist für mich eine interessante und offene Frage. Wir haben mit Veröffentlichung um Kommentierung gerade auch unter praktischen Gesichtspunkten gebeten. Nach meinem Eindruck werden die Empfehlungen von vielen genutzt, um diese für den jeweiligen lokalen Kontext anzupassen und teilweise auch zu konkretisieren. Ich gehe davon aus, dass die Empfehlungen zum Thema bereits zeitnah weiterentwickelt werden.

Gibt es bereits Reaktionen anderer Fachgesellschaften oder Ärzte auf das Papier?

Schildmann: Es gab viele und erwartungsgemäß unterschiedliche Reaktionen, die allerdings überwiegend konstruktiv waren. Die Tatsache, dass in sehr kurzer Zeit sieben Fachgesellschaften die Empfehlungen unterstützt haben, zeigt den Bedarf. Für die klinische Praxis wäre es sicherlich wichtig, dass wir es in Deutschland durch die Bereitstellung von Ressourcen, „social distancing“ und weitere Maßnahmen schaffen, möglichst wenige Entscheidungen unter den Bedingungen nicht ausreichender intensivmedizinischer Ressourcen treffen müssen.

Zur Person
Prof. Jan Schildmann ist Direktor des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin, Medizinische Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Er ist Mitglied der Zentralen Kommission zur Wahrung ethischer Grundsätze in der Medizin und ihren Grenzgebieten (ZEKO) bei der Bundesärztekammer. Schildmann ist Facharzt für Innere Medizin, seit 2019 mit der Zusatzbezeichnung Palliativmedizin.