Martin Litsch: „Wir ziehen alle an einem Strang“

Nachgefragt bei Martin Litsch, AOK-Bundesverband

 

Beim Segeln und auf hoher See heißt es: Not kennt kein Gebot. Gilt das gegenwärtig auch für die GKV?

Martin Litsch: Natürlich sind in dieser Krise von allen Beteiligten Schnelligkeit, Pragmatismus und Lösungsorientierung gefordert. Das bedeutet auch, dass das bisherige, teilweise hochkomplexe Regelwerk im Gesundheitswesen, so gut und sinnvoll es in normalen Zeiten ist, diesen Herausforderungen angepasst werden muss. Gerade geht es um eine größtmögliche Unterstützung für Krankenhäuser, Ärztinnen und Ärzte sowie Pflegefachkräfte, damit diese in der kritischen Lage weiter leistungsfähig bleiben. Und es geht um Kompensationen und Auffangnetze für Arbeitnehmer und Selbstständige sowie Unternehmen, die sich mitunter von jetzt auf gleich in schwierigen Situationen wiederfinden. Aus meiner Sicht ziehen alle hier gerade an einem Strang. Milliardenschwere Finanzhilfen werden durch die Bundesregierung und die Abgeordneten in Windeseile organisiert, Fristen und Vorschriften gelockert oder ausgesetzt. Der Rettungsschirm wird also weit aufgespannt. Ich hoffe natürlich, dass die Stabilität der Sozialversicherungssysteme dabei nicht aus dem Blick gerät.

Jede Not hat irgendwann auch ein Ende. Ist dann wieder „business as usual“ angesagt oder bleiben dauerhafte Änderungen im System?

Litsch: Gerade ist viel die Rede davon, dass nach Corona nichts mehr so sein wird wie früher. Wir erfahren auf drastische Weise, wie wichtig ein starkes Gesundheitswesen ist und vor allem, wie wichtig die Menschen sind, die darin arbeiten. Wir werden aus diesem Extrem auch wieder zurückkehren in einen Normalbetrieb. Geschäfte und Schulen werden wieder öffnen, die Produktion wieder hochfahren, das Leben weitergehen. Aber der ökonomische und mentale Einschnitt ist jetzt schon gewaltig und noch ist offen, wie wir diese Erfahrungen umsetzen.  

Und für das Gesundheitswesen?

Litsch: Für das Gesundheitswesen denke ich, dass das Ziel der größtmöglichen Effizienz hinterfragt wird. Und auch die Diskussion um die notwendige Modernisierung der deutschen Krankenhauslandschaft von nun an unter anderen Vorzeichen fortgeführt wird. All das ist angemessen mit Blick auf die Lage, in der wir uns derzeit befinden. Ich hoffe nur, dass wir nicht den Fehler machen werden, ausgeprägte Überkapazitäten mit guter Versorgungsqualität gleichzusetzen. Wie auch immer unser Weg aussehen wird, die finanziellen Ressourcen im Gesundheitswesen bleiben endlich. Dieser Rahmen gilt auch für den Normalbetrieb der Zukunft.

Wir fahren gerade das größte Modellprojekt für die Notfallversorgung. Können wir daraus Lehren für die geplante Gesetzgebung ziehen?

Litsch: Ich hätte auf dieses Modellprojekt gerne verzichtet, aber wo wir nun damit konfrontiert sind, werden wir nach der Krise natürlich auch unsere Erfahrungen nutzen. Inwiefern sich das bereits in der Gesetzgebung widerspiegeln wird, da möchte ich noch keine Prognose wagen. Sinnvoll wäre aber beispielsweise, dass wir die positive Dynamik der interprofessionellen und sektorenübergreifenden Zusammenarbeit zwischen niedergelassenen Ärzten, Krankenhausärzten, medizinischen Fachkräften und Pflegefachkräften mitnehmen, die wir gerade erleben. Davon können wir dauerhaft profitieren.

Zur Person:
Seit 2016 ist Martin Litsch Vorstandsvorsitzender des AOK-Bundesverbandes. Er ist unter anderem verantwortlich für die Geschäftsführungseinheiten Versorgung, Politik/Unternehmensentwicklung und IT-Steuerung sowie für den Bereich Medizin. Vor seinem Wechsel zum Bundesverband war Litsch acht Jahre lang Vorstandsvorsitzender der AOK Nordwest.