Prof. Daniel Strech: „Welche Kostenobergrenzen akzeptieren wir?“

Nachgefragt bei Prof. Daniel Strech, Medizinethiker

 

Bei knappen medizinischen Ressourcen muss priorisiert werden. Gibt es dafür hierzulande gültige Kriterien? Konkret: Wenn es hart auf hart kommt: Welche Patienten bekommen ein Beatmungsgerät und welche nicht?

Prof. Daniel Strech: Hierzulande gibt es das Transplantationsgesetz, das alleine auf den Schweregrad der Erkrankung und Nutzenausmaß setzt. Das sind auch die Kriterien, die in der Debatte um andere Priorisierungsfragen stets an erster Stelle stehen. Bereits mit diesen Kriterien in der Praxis zu arbeiten, bei der Allokation von Organen oder Intensivbetten und Beatmungsgeräten, ist psychisch und physisch sehr belastend für die Gesundheitsberufe, die Angehörigen der Betroffenen und am Ende für die ganze Gesellschaft. Ein drittes Kriterium, das es noch schwieriger und belastender macht, aber in der Praxis nicht völlig ausgeblendet werden kann, ist das der Kosteneffektivität. Hierzu haben wir noch keine „gültigen“ Kriterien – anders als im Vereinigten Königreich.
 
Eine Diskussion über medizinische Priorisierung haben verschiedene Gesundheitsminister stets vehement abgelehnt – rächt sich das in Krisenzeiten?

Strech: Ich denke, dass die Diskussion zu medizinischer Priorisierung bei begrenzten finanziellen Ressourcen in diesem konkreten Fall nur sehr bedingt hilfreich ist. Für die Triage im Krankenhaus haben wir seit Jahren explizite Debatten und „gültige“, breit konsentierte Kriterien. Ebenso für die Organallokation. All das ist für die aktuelle Situation bereits sehr hilfreich.

Aber?

Strech: Viel weniger sind wir auf die Frage vorbereitet, welche Obergrenzen für monetäre, soziale und gesundheitliche Kosten wir bereit sind zu akzeptieren, um Hunderte, Tausende oder sogar Hunderttausende Todesfälle durch Covid-19 zu verhindern. Oder gibt es gar keine Obergrenzen? Das Hauptproblem ist, dass wir schwer abschätzen können, wie viele Todesfälle wir durch Social Distancing verhindern müssen und können. Im Falle der Grippewellen scheinen wir zu akzeptieren, dass jedes Jahr Hunderte bis einige Tausend (meist ältere) Menschen sterben – ohne dass wir Social Distancing wie im aktuellen Ausmaße verordnen. Selbst mit Grippe-Impfpflichten für das Gesundheitspersonal und Personal in Altenheimen tun wir uns schwer. Wenn wir aber nicht Hunderte, sondern Hunderttausende Menschen vor dem Covid-19-Tod schützen wollen, so einige Hochrechnungen aus dem Vereinigten Königreich, akzeptieren wir viel drastischere Maßnahmen. Zu der sehr hohen Anzahl von Toten, die im Durchschnitt 80 Jahre alt sind, käme die extreme Belastung des Gesundheitssystems. Die meisten schwer an Covid-19-Erkrankten könnten gar nicht intensivmedizinisch im Krankenhaus, sondern müssten palliativmedizinisch behandelt werden. Als erste Reaktion ist damit klar, dass wir als Gesellschaft „alles Mögliche“ gegen ein solches über wenige Monate verteiltes Massensterben innerhalb der älteren Bevölkerung tun müssen und wollen, auch wenn es erst mal nur gut begründete Modellrechnungen sind. Wir führen deshalb sehr invasive nicht-pharmakologische Maßnahmen, sogenannte NPI wie Schulschließungen und Kontaktrestriktionen, durch.

Andererseits?

Strech: Auf der anderen Seite sind aber auch die Nebenwirkungen dieser NPI extrem. Dazu gehören nicht nur sehr zentral die wirtschaftlichen Aspekte und die damit konsekutiv verbundenen sozialen und gesundheitlichen Konsequenzen. Die Bundesregierung hat jetzt 750 Milliarden Euro als finanziellen Ausgleich genannt. Als Folgen könnten viele sozialstaatliche Investitionen über die kommenden Monate oder Jahre ausfallen. Wir haben zudem nur begrenzte Vorstellungen davon, wie viele beispielsweise Stress-bedingte Erkrankungen wie Depression oder Herzinfarkt und damit auch Todesfälle durch drohende Insolvenzen und finanziellen Ruin ausgelöst werden. Wie viele pflegebedürftige alte Menschen leben durch die Kontaktrestriktionen isoliert in Pflegeheimen ohne Begleitung ihrer Angehörigen oder in der Häuslichkeit ohne Fürsorge einer ausländischen Betreuungskraft? Und wie oft kommt es dadurch zu einem frühzeigen Versterben von älteren Menschen – etwa durch zu spät entdeckte andere Infektionen? Mir sind bislang keine Modellrechnungen für die gesundheitlichen Schäden der NPI bekannt. Aber was, wenn diese Modellrechnungen zu Tausenden oder Zehntausenden Todesfällen als Nebenwirkungen der NPI kommen? Dann gibt es noch die sozialen Nebenwirkungen, wie eine Verstärkung sozialer Ungleichheiten, die plausibel erscheinen, aber schwer in ihrer Quantität zu operationalisieren sind. Güterabwägungen in diesem Ausmaß haben wir in der Verteilungsdebatte noch nicht durchgespielt. Aber diese Güterabwägung findet faktisch statt, auf der Basis von Modellen zum tatsächlichen Ausmaß der zu verhindernden Todesfälle und eventuell Spekulationen über die gesundheitlichen und sozialen Nebenwirkungen.

Was fordern Sie?

Strech: Ich finde es wichtig, die Frage hinter diesen Güterabwägungen explizit zu stellen und die ethischen Argumente hinter den Entscheidungen zu klären. Insbesondere benötigen wir Begleitforschung zur Wirksamkeit und zu den gesundheitlichen und sozialen Nebenwirkungen der NPI. Einen entsprechenden Aufruf haben QUEST Center, EbM-Netzwerk und die Akademie für Ethik in der Medizin veröffentlicht. Die Daten aus der Begleitforschung nehmen uns die Güterabwägung nicht ab, aber sie unterstützen deren Rationalität und Transparenz.
 

Zur Person:
Prof. Daniel Strech ist Medizinethiker und arbeitet am Berlin Institute of Health. Er leitet dort die Arbeitsgemeinschaft „Translationale Bioethik“ und ist stellvertretender Direktor des QUEST Center. Strech ist Mitglied in zahlreichen wissenschaftlichen Vereinigungen, beispielsweise dem Deutschen Netzwerk Evidenz-basierte Medizin und der International Society on Priorities in Health Care.