Nachgefragt bei Prof. Thorsten Kingreen, Jurist
Berlin (pag) – Einen Dammbruch, der erschütternd wenig Aufregung erzeugt hat, sieht Prof. Thorsten Kingreen im Paragraphen 5 des Infektionsschutzgesetzes. Der Bundesgesundheitsminister werde zu einer Art „Verteidigungsminister im Pandemiefall“. Er empfiehlt: möglichst schnell von der voluminösen Rhetorik des Ausnahmezustandes herunterkommen.
Derzeit wird in der öffentlichen Debatte über eine Exit-Strategie aus den bestehenden Ausgangsbeschränkungen und Kontaktsperren diskutiert. Was ist davon aus juristischer Sicht zu halten?
Prof. Thorsten Kingreen: Zunächst einmal muss man sagen, dass diese Maßnahmen zwar erhebliche Grundrechtseingriffe beinhalten, aber doch einen grundsätzlich legitimen Zweck verfolgen. Man muss daher aufpassen, dass die Diskussion über Exit-Strategien nicht in das Fahrwasser der Verharmloser der dramatischen Situation gerät. Aber wegen des erheblichen Eingriffs bestehen hohe Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen. Je länger die Einschränkungen dauern, desto höher sind daher die Anforderungen an ihre Rechtfertigung und desto mehr müssen wir danach differenzieren, wer besonders schutzbedürftig ist und umgekehrt, wer besonders darauf angewiesen ist, dass diese Beschränkungen alsbald gelockert werden. Das sind Entscheidungen, die wir vor allem, aber nicht nur auf der Grundlage der Erkenntnisse der Virologie und der Epidemiologie treffen müssen.
Aber liegt in Differenzierungen nach der Schutzbedürftigkeit nicht die Gefahr von Diskriminierungen?
Kingreen: In der Tat ist es, abgesehen von den praktischen Abgrenzungsproblemen, politisch heikel, vulnerablen Gruppen pauschal weitere rechtliche Beschränkungen aufzuerlegen, während man sie für alle anderen pauschal lockert. Wenn es aber richtig ist, dass vor allem ältere Menschen und Menschen mit Vorerkrankungen Intensivbetten benötigen, dann sollte man daraus auch Konsequenzen ziehen. Differenzierungen sind dann auch rechtlich keine Diskriminierung wegen des Alters, weil ja nach Schutzbedürftigkeit unterschieden wird. Das machen wir ja auch jetzt schon, etwa mit den Sonderregelungen für Pflegeheime. Von rechtlichem Zwang würde ich abraten, aber man könnte zumindest mehr als bislang mit Empfehlungen und Hilfen arbeiten, übrigens auch gegen Einsamkeit. Virologen mögen beurteilen, wie sinnvoll es ist, alten Menschen auf der einen Seite den gemeinsamen Spaziergang mit Abstand im Park zu verbieten, sie aber auf der anderen Seite mit der Virenschleuder Bargeld in der Hand im vollen Supermarkt einkaufen zu lassen. Umgekehrt möchte ich Abiturienten bald wieder in der Schule und Frauenhäuser bald wieder im Normalbetrieb sehen. Wir erleben ja gerade überall die Entzauberung der digitalisierten Kommunikation – Menschen sind Gemeinschaftswesen.
Vergangene Woche hat der Bundestag in einem beispiellosen Schnellverfahren eine Reform des Infektionsschutzgesetzes beschlossen. Was ist davon zu halten?
Kingreen: Diese Reform hat mich eigentlich am meisten erschüttert. Auf der einen Seite wurde das Problem der unzureichenden Ermächtigungsgrundlagen für Ausgangsbeschränkungen und Kontaktverbote nur halbherzig angegangen. Auf der anderen Seite hat man mit dem Paragraph 5 des Infektionsschutzgesetzes einen wirklichen Dammbruch produziert, der erschütternd wenig Aufregung erzeugt hat. Nach Ausrufung einer pandemischen Lage durch die Bundesregierung, für die anfangs noch nicht einmal die Zustimmung von Bundestag und Bundesrat notwendig sein sollte, liegen alle weiteren Entscheidungsbefugnisse in der Hand des Bundesgesundheitsministers, der zu einer Art Verteidigungsminister im Pandemiefall wird. Das ist eine verfassungsrechtlich fragwürdige Zentralisierung, weil es keine Norm gibt, die eine Ausnahme von dem Grundsatz vorsieht, dass die Bundesgesetze durch die Länder durchgeführt werden müssen. Am schlimmsten ist es aber, dass durch Rechtsverordnung des Ministeriums von allen Vorschriften nicht nur des Infektionsschutzgesetzes, sondern auch anderen Gesundheitsgesetzen abgewichen werden darf. Ein solches Notverordnungsrecht, das Parlamentsgesetze einfach suspendieren darf, schließt das Grundgesetz aus wohlerwogenen historischen Gründen aus. Dass es kaum Widerstand gegeben hat, liegt wohl auch an der voluminösen Rhetorik des Ausnahmezustands. Davon müssen wir schleunigst wieder runterkommen und alle Akteure im Gesundheitswesen sind aufgerufen, auf eine umgehende Änderung dieser Bestimmung zu drängen, die nicht in falsche Hände geraten darf.
Zur Person:
Prof. Thorsten Kingreen ist seit 2003 Universitätsprofessor an der Universität Regensburg. Dort hat er den Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Sozialrecht und Gesundheitsrecht inne. Kingreen ist Mitglied in Schiedsämtern, Schlichtungsauschüssen und diversen Beiräten; von 2018 bis 2019 war er Mitglied in der Wissenschaftlichen Kommission für ein modernes Vergütungssystem beim Bundesministerium für Gesundheit.