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Einmal Reset, bitte!

Vorschläge für einen Neustart des Gesundheitswesens

Berlin (pag) – Einen Neustart will die Robert Bosch Stiftung dem deutschen Gesundheitswesen verordnen. Dem Menschen zugewandt, patientenorientiert, multiprofessionell, qualitätsgeprägt und offen für Innovationen soll es sein. Nachdem im vergangenen Jahr Vorschläge dafür auf Bürgerdialogen gesammelt wurden, haben Botschafter dieser Treffen den Gesundheitsminister jetzt ins Verhör genommen.

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Bevor bei der Online-Konferenz im Sommer die Bürgerbotschafter Jens Spahn ihre Fragen stellen, wird die Reformbedürftigkeit des Gesundheitswesens austariert. Bernadette Klapper, Bereichsleiterin Gesundheit bei der Stiftung, verlangt nach mutigen Ideen und visionären Reformvorschlägen – gerade angesichts der Herausforderungen, die Globalisierung, demografischer Wandel und Digitalisierung bereithielten. Jens Spahn verhehlt dagegen nicht, dass er sich mit dem Begriff Neustart schwertue. Dass man bisher so gut durch die Coronakrise gekommen sei, habe auch damit zu tun, dass dieses System – trotz aller Probleme – eine gute Basis sei. Und deshalb spricht der Politiker lieber von neuem Schwung, mit dem das Gesundheitswesen in den 20er-Jahren zu gestalten sei. Besonderen Handlungsbedarf sieht er bei den Gesundheitsämtern und bei der internationalen Zusammenarbeit im Gesundheitsbereich. Er hofft außerdem, dass die neue Wertschätzung für Beschäftigte des Gesundheitswesens erhalten bleibt – „nicht nur in Wort, sondern auch in Taten, in Rahmenbedingungen“. Die Fragen, mit denen die Bürgerbotschafter den Minister konfrontieren, decken eine breite Themenpalette ab: Prävention und Gesundheitskompetenz gehören ebenso dazu wie die Fallpauschalen im Krankenhaus. Es geht um die Zahl gesetzlicher Krankenkassen in Deutschland sowie eine bessere Honorierung der sprechenden Medizin.

Worum geht es bei „Neustart“?

Zum Hintergrund: Die Robert Bosch Stiftung hat vor zwei Jahren die Initiative „Neustart!“ begonnen.
Bereits erschienen ist der Bürgerreport 2019. Er bündelt die Ergebnisse von fünf Bürgerdialogen, an denen im vergangenen Mai in verschiedenen Städten rund 400 zufällig ausgewählte Bürger teilnahmen. Der Report enthält über 500 Reformideen.
Parallel dazu diskutieren Experten in verschiedenen Think Labs – Denk-Laboren – über ein zukünftiges Gesundheitssystem. Ein konkretes Thema lautet beispielsweise Ressourcenallokation.
Lesen Sie im folgenden die Fragen der Bürgerbotschafter an den Minister.

500 zufällig ausgewählte Bürger, fünf Städte, ein Ziel: die Entwicklung gemeinsamer Empfehlungen für das Gesundheitswesen in Deutschland. Ende Mai 2019 trafen sich Bürger in Kiel, Rostock, Köln, Fürth und Freiburg, um Vorschläge für eine zukünftige Gesundheitsversorgung zu entwickeln. © Robert Bosch Stiftung, Heinrich Völkel

Gesundheitskompetenz
Kassen sollen „aktive Spieler“ sein

Prävention und Gesundheitskompetenz sollten so früh wie möglich etabliert werden – am besten schon in Kindergärten und Schulen. Welche konkreten Konzepte verfolgen Sie, um Maßnahmen zur Gesundheitsförderung zu etablieren und umzusetzen?
Grundsätzlich unterstützt Spahn, dass sich Kinder in der Schule oder noch früher in den Kitas mit Gesundheit auseinandersetzen. Aber er warnt davor, die Bildungs-institutionen zu überfrachten: „Wir dürfen die Schule nicht alles lösen lassen, was gesellschaftlich nicht mehr klappt.“ Die Krankenkassen seien zur stärkeren regionalen Zusammenarbeit verpflichtet worden. Der Minister will, dass sie zusammen mit den Kommunen und Landkreisen Konzepte für die Schulen erarbeiten. Als konkrete Themen nennt er Ernährung, aber auch Impfen und Zahnuntersuchungen. „Da möchte ich die Kassen als aktive Spieler sehen – auch finanziell aktiv.“ Allerdings müsse auch eine Grenze definiert werden, um welche Aufgaben sich die Bildungsinstitutionen kümmern – Beispiel Sportunterricht – und was die Krankenkassen mit guten Kooperationen beitragen können.

Die sprechende Medizin
Es muss umgeschichtet werden

Der wirtschaftliche Druck auf medizinische Einrichtungen führt dazu, dass die Mitarbeiter nur wenig Zeit für die Patienten haben. Wie kann über eine erhöhte Sprechstundenzahl und eine besser vergütete sprechende Medizin ausreichend Zeit für Kommunikation mit den Patienten gewährleistet werden?
Der Minister teilt das grundsätzliche Anliegen. In den vergangenen Jahren sei die sprechende Medizin bereits stärker in den Fokus gelangt. Aber: „Es ist nicht so einfach, das in den Vergütungsstrukturen, wie wir sie kennen – und deshalb muss man sie dann auch schrittweise überarbeiten – abzubilden.“ Bei der konkreten Finanzierung der sprechenden Medizin sieht der Politiker eine Verpflichtung zum Umschichten: von technischen Leistungen wie Labor und Großgeräten hin zur Kommunikation. Das Schwierige daran sei insbesondere die Nachvollziehbarkeit, denn „20 Minuten Gespräch nachzuvollziehen, ist schwieriger als eine Ultraschallaufnahme“. Spahn erwähnt, dass aus diesem Grund bei der Vergütung der Hausärzte viel mit Pauschalen gearbeitet werde, aber auch diese seien nicht unumstritten.

Primärversorgungszentren
Akteure gesucht

Die Bürgerbotschafter fordern medizinische Primärversorgungszentren in Stadtteilen und Gemeinden mit klarer Lotsenfunktion, um eine Versorgung aus einer Hand sicherzustellen. Sie sollen interdisziplinär arbeiten und Zugang für jeden ermöglichen. Wie kann es gelingen, sie auch in Deutschland zu etablieren?
„Die rechtliche Grundlage wäre da“, antwortet Spahn. Eine grundsätzliche Zustimmung gebe es auch. Benötigt werden vor allem diejenigen, die solche Modelle vor Ort umsetzen. Zwar gibt es dem Politiker zufolge mehrere derartige Initiativen in Deutschland – beispielhaft nennt er den Gesundheitskiosk in Hamburg-Billstedt –, aber dennoch scheint es für eine regelhafte Umsetzung in der Fläche noch an engagierten Akteuren zu fehlen.

Medizinische Versorgung auf dem Land
Das ungelöste Problem

Die Qualität und Geschwindigkeit der medizinischen Versorgung unterscheiden sich zum Teil deutlich zwischen ländlichen und städtischen Gebieten. Wie können Infrastruktur und Hilfsfristen im ländlichen Raum verbessert, wie Gemeinden und Kommunen stärker unterstützt werden?
Die Sicherstellung der Versorgung auf dem Land beschäftigt Politik schon seit Längerem. Dabei habe man festgestellt, so Spahn, dass es nicht allein eine Geldfrage sei. „Sie könnten als Hausarzt in Mecklenburg-Vorpommern ziemlich gut verdienen, aber trotzdem lassen sich nur wenige überzeugen, dort hinzugehen.“ Es gehe eben um die Lebensbedingungen insgesamt in strukturschwachen Regionen. Die Politik habe sich bemüht, die Rahmenbedingungen der Versorgung daran anzupassen; als Stichwörter nennt Spahn medizinische Versorgungszentren und Hausbesuche durch nichtmedizinisches Personal. Das Problem bleibe jedoch: „Sie müssen Leute haben, die es auch wollen.“ Er bekennt, das Problem sei noch nicht abschließend gelöst.

Krankenhäuser, DRGs, private Betreiber und Überversorgung

Die Bürgerbotschafter kritisieren Fehlentwicklungen in Kliniken als Folge des DRG-Systems. Können die Länder, die sich weitgehend aus der Investitionsfinanzierung zurückgezogen haben, den Sicherstellungauftrag erfüllen? Dürfen zweckbestimmte GKV-Beiträge als Gewinne in private Taschen fließen?
Die Frage, ob private Krankenhausbetreiber Gewinn machen dürfen, beantwortet der Minister mit zwei Gegenfragen: Darf der Apotheker, der niedergelassene Arzt, die Physiotherapiepraxis Gewinne mit GKV-Geldern machen? Sollen unternehmerische Risiken honoriert werden oder soll am Ende alles staatlich sein? Stichwort DRGs: Spahn weist darauf hin, dass die Pflege seit diesem Jahr aus den Fallpauschalen ausgegliedert wurde, da zu ihren Lasten gespart wurde, um Investitionen zu finanzieren. Er räumt ein, dass die DRGs nicht perfekt seien, verweist aber auf gleichzeitige Überversorgung insbesondere in den Ballungsgebieten und Unterversorgung in anderen Regionen. „Solange es keine bedarfsgerechte Versorgung gibt, ist die Idee, einfach Strukturen zu finanzieren, nicht richtig“, lautet seine Argumentation. Einen nicht effizienten Ressourceneinsatz will Spahn verhindern, deshalb verlangt er vor der Diskussion über ein neues Vergütungssystem Strukturveränderungen im stationären Bereich. Diese seien in den ostdeutschen Bundesländern zum Teil schon wesentlich weiter fortgeschritten als im Westen, merkt er an.

Private Krankenversicherung
Die „Gesunden, Schönen und Reichen“?

Die Bürgerbotschafter berichten von Unverständnis über die hohe Anzahl gesetzlicher Krankenkassen und darüber, dass Besserverdienende und Beamte nicht solidarisch in die GKV einzahlen. Wie kann die Gruppe der privilegierten Versicherten stärker in die Pflicht für die Gemeinschaft genommen werden?
Es muss nicht mehr gesetzliche Krankenkassen als nötig geben, aber genügend für einen Wettbewerb unter ihnen, meint Spahn. Für ihn ist der Wettbewerb zwischen den Kassen Voraussetzung für deren Serviceorientierung sowie Kunden- und Versichertenfreundlichkeit. Früher habe es über 1.200 Kassen gegeben, mittlerweile seien es rund 100. Die kleinen seien nicht per se die teuren. Der Politiker stellt außerdem klar, dass nicht alle Privatversicherten privilegiert seien. In der PKV seien nicht nur „die Gesunden, Schönen und Reichen“, sondern beispielsweise auch kleine Selbstständige und Solo-Selbstständige: „Kioskbesitzer und Taxifahrer, die sich wegen der hohen Mindestbeiträge in der Gesetzlichen Krankenversicherung privat versichert haben und ein Problem bekommen, wenn die Beiträge im Alter steigen.“ Somit stellten sich soziale Fragen nicht nur zwischen GKV und PKV, sondern auch innerhalb des privaten Versicherungssystems. Insgesamt hält Spahn die Debatte zu GKV, PKV, Bürgerversicherung und Co. für so festgefahren, dass er sich an dieser Stelle sogar ausdrücklich einen Neustart wünscht.

Zweite Runde von Bürgerkonferenz

Ob es einen solchen geben wird, ist mehr als ungewiss. Aber vielleicht werden auf den Bürgerkonferenzen
der Neustart-Initiative noch unkonventionelle Ideen entwickelt. Eine zweite Runde von Dialogen wird im Herbst stattfinden. Bis 2021 sollen dann die endgültigen Vorschläge für eine nachhaltige Reform des Gesundheitswesens vorliegen.

Weiterführender Link:
https://www.neustart-fuer-gesundheit.de