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Erneutes Ringen um Sterbehilfe

Wie kann eine Neuregelung der Suizidassistenz aussehen?

Berlin (pag) – Das Thema Sterbehilfe wird der Bundestag nicht los. Nachdem der erste Versuch, den assistierten Suizid in ein möglichst enges Korsett zu packen, gescheitert ist, wollen die Abgeordneten den ethisch heiklen und mit Tabus beladenen Topos noch einmal angehen. Gefunden werden soll ein Schutzkonzept, das das Recht auf selbstbestimmtes Sterben nicht über Gebühr einschränkt. Bei Kindern und Jugendlichen könnte ein assistierter Suizid ausgeschlossen werden.  

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Klar ist schon jetzt: Der Vorschlag von Prof. Thomas Fischer, ehemaliger Richter am Bundesgerichtshof (BGH) und meinungsstarker, oft auch polarisierender Kolumnist von „Spiegel Online“, wird im Bundestag bestimmt keine Gefolgschaft finden. Fischer ist dafür, den im Februar 2020 vom Bundesverfassungsgericht für nichtig erklärten Strafrechts-Paragrafen 217 (Verbot der geschäftsmäßigen Sterbehilfe) nicht zu überarbeiten, sondern auf Nimmerwiedersehen in der Versenkung verschwinden zu lassen. Dann, so Fischer, gelte wieder die Rechtslage, die vorher schon seit 140 Jahren Bestand hatte: Da Suizid nicht bestraft werden kann, ist auch die Beihilfe dazu straflos. „Das kann man so lassen“, sagt Fischer bei einem digitalen Fachgespräch der Heinrich-Böll-Stiftung.

Auf die Agenda des Bundestags

Nichtstun allerdings, wie es der Richter a. D. fordert, kommt für die meisten Abgeordneten und im Übrigen auch für Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) nicht in Betracht. Dieser hat bereits Mitte April 30 
Ärztevertreter, Verbände, Organisationen und Juristen
angeschrieben mit der Bitte, ihm Vorschläge für eine Neuregelung der Suizidassistenz zu unterbreiten. Gesundheitsexperte Karl Lauterbach (SPD) ist wild entschlossen, das Thema Sterbehilfe im jetzigen Herbst auf die Agenda des Bundestages setzen. Und Kirsten Kappert-Gonther, Bundestagsabgeordnete der Grünen, erinnert bei der Veranstaltung der Böll-Stiftung daran, dass die Mehrheit, die 2015 für den einschränkenden Paragrafen 217 StGB stimmte, immer noch vorhanden sei. Das müsse berücksichtigt werden.

Schutzpflichten für vulnerabe Gruppen

„Wir müssen eine Regelung treffen, die den Schutzpflichten für vulnerable Gruppen Rechnung trägt.“ Damit meint Kappert-Gonther vor allem alte, chronisch sowie psychisch kranke oder pflegebedürftige Menschen, „die niemandem zur Last fallen wollen“. Auch müsse verhindert werden, dass sie zu einem Suizid – etwa von Angehörigen – gedrängt werden. „Menschen in Pflege- und Notsituationen müssen Hilfe bekommen, damit sie nicht aus dem Leben scheiden wollen“, so die Grünen-Politikerin. Suizid als Form der Lebensbeendigung dürfe auf keinen Fall zur Normalität werden.
Das Bundesverfassungsgericht selbst hat es als legitimes Anliegen des Staates bezeichnet, zu verhindern, „dass sich der assistierte Suizid in der Gesellschaft als normale Form der Lebensbeendigung durchsetzt“. Kirsten Kappert-Gonther wie auch Prof. Steffen Augsberg, Mitglied des Deutschen Ethikrates und Professor für öffentliches Recht an der Uni Gießen, plädieren dafür, Kriterien aufzustellen, mit denen sichergestellt wird, dass eine (straffreie) Sterbehilfe nur bei solchen Menschen erfolgt, deren Entschluss auf einer freien Willensentscheidung beruht und keine Verzweiflungstat ist. „Die Kriterien dafür müssen diskutiert werden“, sagt Augsberg. In Betracht kämen zum Beispiel – wie es auch das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil angedeutet hat – Wartefristen, die Einbeziehung von Psychiatern und Beratungsgespräche. „Unbedingt festzuzurren“ ist nach Ansicht von Augsberg in einem Schutzkonzept zudem, dass Suizidassistenz bei Minderjährigen verboten wird. Ein Recht auf aktive Sterbehilfe für Kinder und Jugendliche wie in Belgien oder in den Niederlanden soll es hierzulande nicht geben. Auch Patientenverfügungen dürfen laut Augsberg nicht ohne Weiteres akzeptiert werden. „Es darf kein Suizid bei jetzt dementen Personen erlaubt werden.“

Demenz und Sterbehilfe

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In den Niederlanden hatte der Fall einer 74-jährigen an Demenz erkrankten Frau für Aufsehen erregt, bei der 2016 – so heißt es in dem Nachbarland – eine Euthanasie durchgeführt worden war, obwohl sie sich dagegen gewehrt hatte. Das höchste Gericht sprach die Ärztin vor Kurzem von Mord frei, weil die Frau einige Jahre zuvor in einer Verfügung bestimmt hatte, Sterbehilfe in Anspruch nehmen zu wollen, wenn sie nicht mehr in der Lage sei, bei ihrem Mann zu wohnen. Sollte Augsbergs Forderung aufgegriffen werden, dürfte eine Diskussion darüber entbrennen, wie verbindlich Patientenverfügungen dann für Angehörige und Ärzte überhaupt noch sein werden und ob diese nachher im Zustand der Einwilligungsunfähigkeit widerrufen werden können. Die Ansicht darüber gehen unter Juristen weit auseinander.
Für illusorisch hält allerdings Eugen Brysch von der Deutschen Stiftung Patientenschutz die Vorstellung, mit prozeduralen Vorgaben festlegen zu können, welche Entscheidung zur Selbsttötung autonom ist und welche nicht und in welchem Falle demnach Suizid-
assistenz erlaubt ist. Um wenigstens zu verhindern, dass vonseiten professioneller Suizidhelfer, also Sterbe-
hilfeorganisationen, Druck auf vulnerable Gruppen ausgeübt wird, schlägt die Stiftung als schnell umsetzbare Lösung vor, im neuen Paragraf 217 Strafgesetzbuch die mit Gewinnabsicht durchgeführte Förderung der Selbsttötung unter Strafe zu stellen.

Wie ernsthaft ist der Suizidwunsch?

Eine tragende Rolle für Ärzte sieht ein weiterer Vorschlag vor, den ein Quartett aus Palliativmedizinern, Medizinrechtlern und Ethikern um Prof. Jochen Taupitz
vorgelegt hat. Danach sollen allein Mediziner die Ernsthaftigkeit des Suizidwunsches prüfen. Und nur sie sowie Angehörige und nahestehende Personen bleiben straffrei, wenn sie Hilfe zur Selbsttötung leisten.Werbung für Hilfe zur Selbsttötung soll verboten werden. Es bleibt anzuwarten, wie es im Herbst mit der Sterbehilfe weitergeht und ob noch in dieser Legislatur eine neue gesetzliche Regelung verabschiedet wird. Experten, unter anderem aus dem Deutschen Ethikrat, warnen vor Schnellschüssen: Mit einem neuen Gesetz, das erneut von den Karlsruher Richtern kassiert wird, dürfte niemanden – am allerwenigsten den Betroffenen – geholfen sein.

Zum Hintergrund: eine Gemengelage von Urteilen
Mit dem Ziel, Sterbehilfeorganisationen Einhalt zu gebieten, hat der Gesetzgeber 2015 im Paragraf 217 Strafgesetzbuch (StGB) die geschäftsmäßige Sterbehilfe unter Strafe gestellt. Dieses Verbot wurde jedoch im Februar 2020 vom Bundesverfassungsgericht für grundgesetzwidrig erklärt. Der Grund: Paragraf 217 StGB entleere faktisch die Möglichkeit einer assistierten Selbsttötung und greife dadurch in das Recht ein, sich das Leben zu nehmen und dabei auf die Hilfe Dritter zurückzugreifen. Ausdrücklich betonen die Richter aber, dass es dem Gesetzgeber nicht untersagt ist, die Suizidhilfe zu regulieren. Er müsse dabei aber sicherstellen, dass dem Recht des Einzelnen, sein Leben selbstbestimmt zu beenden, Rechnung getragen wird. Das Gericht sieht ein breites Spektrum an Möglichkeiten für ein Schutzkonzept, etwa gesetzlich festgeschriebene Aufklärungs- und Wartepflichten oder auch Verbote „besonders gefahrträchtiger Erscheinungsformen der Suizidhilfe“.           
                                                                                                                                                                                                                                    Nach wie vor ist unklar, wie das Bundesamt für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) auf das Urteil reagieren wird. Ihm liegen über 100 Anträge von Suizidwilligen vor, die eine Erlaubnis zum Erwerb tödlicher Betäubungsmittel haben wollen. Grund dafür ist ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts aus dem Jahr 2017, das im extremen Einzelfall einen Anspruch auf Genehmigung postuliert hat. Das Bundesgesundheitsministerium hat dem BfArM allerdings untersagt, das Urteil umzusetzen. Seitdem werden Anträge (seit 2017 sind fast 200 eingegangen) nicht mehr beschieden. Begründet hat das Ministerium seine Anordnung unter anderem damit, dass das Urteil des BVerfG zu 217 StGB abgewartet werden soll. Auch nach der inzwischen ergangenen Entscheidung bleibt das Ministerium aber dabei, der Behörde positive Bescheide zu verbieten.
                                                                                                                                                                                                                                  Keine Klarheit hat auch die Vorlage des Verwaltungsgerichts (VG) Köln beim Bundesverfassungsgericht gebracht, mit der faktisch das BfArM zur Bescheidung der Anträge verpflichtet werden sollte. Die Vorlage wurde Ende Juni zurückgewiesen – allerdings nur, weil die Begründung des VG nach dem Sterbehilfe-Urteil in den Augen der Verfassungsrichter nicht mehr stichhaltig war. Zur Sache selbst hat sich das Bundesverfassungsgericht nicht geäußert.