Im Gespräch

Neustart für die Kosten-Nutzen-Bewertung

Prof. Wolfgang Greiner über ATMPs, AMNOG und die Sorge vor Rationierung

© pag, Fiolka

Berlin (pag) – Vor einigen Jahren erregte Sovaldi die Gemüter, jetzt ist es die Gentherapie Zolgensma, die prominent vor Augen führt, vor welche Herausforderungen hochpreisige Arzneimitteltherapien das GKV-System stellen. Dabei hat sich der Fokus der Debatte inzwischen verschoben, meint der Gesundheitsökonom Prof. Wolfgang Greiner: von der Angemessenheit der Preise bzw. der Funktionalität des Preisbildungsverfahrens hin zur grundsätzlichen Frage der Finanzierbarkeit.

Ist das AMNOG-Verfahren angemessen auf ATMPs wie Gentherapien und CAR-T-Zelltherapien vorbereitet? Oder reichen neue Instrumente wie die Anwendungsbegleitende Datenerhebung, der Risikopool der Kasse und besondere Erstattungsmodelle als Ergänzungen aus?

Greiner: Grundsätzlich hat sich das AMNOG in den vergangenen zehn Jahren als sehr belastbares, funktionales und – von wenigen Ausnahmen abgesehen – faires Verfahren etabliert. Der Gesetzgeber und die beteiligten Parteien haben gezeigt, dass sie in der Lage sind, sich an verändernde Rahmenbedingungen anzupassen. 22 kleine Anfragen an die Bundesregierung und elf Änderungsgesetze seit Einführung des AMNOG bestätigen das vielfach beschriebene „lernende System“. Insofern denke ich, dass das AMNOG an sich weiterhin das „richtige“ System ist.

Aber?

Greiner: Der Risikopool war ein wichtiges erstes Signal an die Krankenkassen, jedoch keine Lösung für faire Preise neuartiger Therapieoptionen. Für die Preisbildung, die längst nicht mehr nur eine „frühe“ und einmalige Erstattungsbetragsverhandlung ist, benötigt es zukünftig aussagekräftige Versorgungsdaten. In der Frage der Datenverfügbarkeit stellt der Gesetzgeber die Strukturen unter anderem mit dem zuletzt eingeführten Forschungsdatenpool neu auf. Wünschenswert wäre, dass diese Datensätze zukünftig auch für die Preisbildung und Umsetzung alternativer Erstattungsmodelle nutzbar sein werden. Die Anwendungsbegleitende Datenerhebung soll wiederum die Unsicherheit über den Nutzen bestimmter Arzneimittel reduzieren. Wie gut dies funktionieren und welche Akzeptanz die generierte Evidenz haben wird, die auch nicht frei von Mängeln und Unsicherheit sein wird, werden wir erst in einigen Jahren beantworten können.

Welche Herausforderungen sehen Sie speziell für erfolgsorientierte Vergütungsmodelle? Ein möglicher Kassenwechsel des Versicherten und ein hoher Aufwand für jedes Präparat machen das Modell nicht gerade attraktiv, oder?

Greiner: Der § 130b-Erstattungsbetrag selbst ist, wenn man so will, bereits ein zentraler erfolgsorientierter Vergütungsvertrag. Nur definiert sich der „Erfolg“ hier über den auf Basis früher klinischer Daten antizipierten Nutzen. Dieser ist mit großer Unsicherheit verbunden. Neben positiven Wettbewerbssignalen haben anschließende dezentrale Pay-for-Performance-Verträge den Vorteil, diese Unsicherheit durch Monitoring zu reduzieren. Dies ist bislang auf Gesamt-GKV-Ebene nicht möglich. Zudem lassen sich durch Selektivverträge weitere Einsparungen erzielen. Dies hängt eng an der Bereitschaft pharmazeutischer Unternehmen, weitere Preisnachlässe einzuräumen, wenn entsprechende Rabatte nicht bekannt werden. Vor dem Hintergrund der internationalen Preisreferenzierung ein unter ökonomischen Gesichtspunkten nachvollziehbares Verhalten. Wir beobachten zudem, dass sich bereits heute die Preisbildung verstärkt in nachgelagerte Prozesse verschiebt.

Inwiefern?

Greiner: Bis April 2020 konnten wir für insgesamt 79 nutzenbewertete Arzneimittel weitere Preisnachlässe beobachten, die nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit einem Bewertungsverfahren standen. Hier ist es wahrscheinlich, dass vertragliche Vereinbarungen oder Staffelungen bzw. Neuverhandlungen gegriffen haben. Zur praktischen Umsetzung benötigen Selektivverträge den Willen der Beteiligten, entsprechende Modelle auch tatsächlich zu realisieren. Therapieerfolgsdefinitionen, die in erwartbaren juristischen Auseinandersetzungen enden, sind nicht sinnvoll. Wir beobachten erste Erstattungsverträge, für die der GKV-Spitzenverband transparent auf solche erfolgsabhängigen Vergütungsbestandteile hinweist. Darin werden eindeutige Kriterien für den Erfolg einer Therapie definiert, die so auch im Versorgungsalltag und auf Basis von Versorgungsdaten abbildbar sind.

Welche Daten werden für die Verträge benötigt?

Greiner: Als Datengrundlage dürften dafür derzeit GKV-Abrechnungsdaten am besten geeignet sein. Apothekenabrechnungsdaten fehlt es an den in der Regel erforderlichen Diagnoseinformationen, in den Morbi-RSA-Daten sind angewendete Prozeduren nicht abgebildet. Ein Fehler wäre es jedoch, diese Vertragsmodelle nun überzustrapazieren. Nicht jede kleine Teilpopulation aus den G-BA-Beschlüssen lässt sich in Versorgungsdaten abbilden.

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Derzeit befinden wir uns in einer Umbruchphase, verschiedene Instrumente werden ausprobiert. Wenn Gentherapien nicht nur für Orphans, sondern auch für Volkskrankheiten zugelassen werden, muss diese Testphase vorbei sein. Wie viel Zeit haben Politik und GKV noch, um das System vorzubereiten?

Greiner: Streng genommen befinden wir uns seit sechs Jahren in der von Ihnen beschriebenen Umbruchsphase. Die Diskussion um die Finanzierbarkeit neuer Arzneimittel wird post AMNOG spätestens seit der Markteinführung von Sovaldi im Jahr 2014 kontinuierlich geführt. Nach Hepatitis C waren es neue hochpreisige Onkologika bzw. deren Kombinationstherapien und inzwischen die ATMPs, welche zu einem kontinuierlichen Anstieg der Markteintrittspreise neuer Arzneimittel und auch zu einem Gesamtanstieg der jährlichen Arzneimittelausgaben geführt haben. Dabei hat sich der Fokus der Debatte von der Angemessenheit der Preise bzw. der Funktionalität des Preisbildungsverfahrens „frühe Nutzenbewertung“ inzwischen hin zu der grundsätzlichen Frage der Finanzierbarkeit verschoben.

Was bedeutet das angesichts der zu erwartenden Entwicklung der GKV-Finanzen?

Greiner: In den kommenden Jahren stehen wir nun erstmals seit vielen Jahren wieder vor der Situation, dass neben Mengen- und Preis-
effekten auch negative Einnahmeeffekte die Finanzsituation der GKV belasten werden. Die konjunkturellen Folgen der Covid-19-Pandemie werden höchstwahrscheinlich nach der kommenden Wahl Diskussionen über Einspargesetze erforderlich machen.

Halten Sie die Einführung einer vierten Hürde für sinnvoll?

Greiner: Die Erwartungshaltung eines unmittelbaren und uneingeschränkten Zugangs zu neuen innovativen Arzneimitteln ist bei Patienten, Leistungserbringern und Kostenträgern gleichermaßen vorhanden und ethisch sinnvoll. Der Gesetzgeber hat diesen Anspruch in der jüngeren Arzneimittelgesetzgebung wiederholt untermauert. Das AMNOG bewegt sich damit zwangsläufig im Spannungsfeld dieser Erwartungshaltung einerseits und der Sicherstellung einer ausreichenden, zweckmäßigen und wirtschaftlichen Versorgung andererseits. Das AMNOG hat sich in den letzten Jahren allerdings auch deshalb als tragfähiges Konstrukt erwiesen, weil es sich vonseiten aller am Verfahren beteiligten Parteien als lernfähig und anpassbar dargestellt hat. Es ist aus meiner Sicht deshalb erwartbar, dass die Politik möglichst lange an dem Modell des „freien Markteintritts“ festhalten wird. Eine formale vierte Hürde halte ich deshalb ebenso wenig für sinnvoll, wie die kürzlich vorgeschlagenen Obergrenzen für die Jahrestherapiekosten neuer Arzneimittel.
Mit den neuartigen Therapien stellt sich die grundsätzliche Frage, was ein angemessener Preis ist, mit neuer Brisanz. Ist die Kosten-Nutzen-Bewertung für die Ermittlung eines richtigen und gerechten Preises generell geeignet? Und wenn, auch mit der Effizienzgrenzenanalyse des IQWiG?

Greiner: Wir schlagen bereits seit 2015 im AMNOG-Report vor, Informationen aus Kosten-Nutzen-Bewertungen optional ins Verfahren einzubringen. Politisch erscheint eine verpflichtende Kosten-Nutzen-Bewertung als Entscheidungskriterium für die Preisfindung derzeit nicht durchsetzbar. Vielleicht liegt das auch an dem weit verbreiteten Mythos, dass mit einer Kosten-Nutzen-Analyse zwangsläufig die Entscheidung über den Markteintritt verbunden ist, also Rationierung betrieben wird. Diesen Automatismus gibt es aber in keinem Land.

Und wie ist das Stimmungsbild bei den Kostenträgern?

Greiner: Insbesondere vonseiten einiger Kostenträger mehren sich die Stimmen, Daten aus entsprechenden Analysen zumindest fakultativ oder in bestimmten Verfahrenskonstellationen, z. B. ATMPs, in die Verfahren einzubringen. Dazu bedarf es jedoch zweier wichtiger Voraussetzungen: Eine offene Diskussion zwischen G-BA, pharmazeutischen Unternehmern und dem GKV-Spitzenverband, in welcher Form und vor allem auf welcher Datenbasis Kosten-Nutzen-Bewertungen sinnvoll in die bisherige AMNOG-Systematik als zusätzliche Entscheidungsgrundlage eingebunden werden können. Und natürlich einen erneuerten Austausch zwischen den Verfahrensbeteiligten und der maßgeblich tangierten Fachöffentlichkeit, Medizinern, Ökonomen und Ethikern, über die Methoden der Kosten-Nutzen-Bewertung. Wie mehrfach dargelegt, ist aus methodischen Gründen die Effizienzgrenze für den Markt neuer Arzneimittel zur Ermittlung von Preisobergrenzen nicht geeignet. Da bräuchte es einen Neustart, der sich diesmal an den internationalen Standards für gesundheitsökonomische Analysen orientieren sollte.

Die Politik scheint eher der Ansicht zu sein, dass die Gesellschaft die Frage nach einem gerechten Preis diskutieren muss. Wie lässt sich die gesellschaftliche Zahlungsbereitschaft für neue Therapien, für Heilung ermitteln?

Greiner: Um dies zu beantworten ist zunächst zu klären, wodurch sich die „gesellschaftliche“ Zahlungsbereitschaft definiert. Etabliert ist die Bestimmung der gesellschaftlichen Zahlungsbereitschaft aus eine Aggregation der individuellen Zahlungsbereitschaften, was eigene theoretische Probleme aufwirft. Zur Ermittlung der individuellen Zahlungsbereitschaft stehen unterschiedliche Ansätze zur Verfügung. Die Zahlungsbereitschaft kann z.B. indirekt aus dem tatsächlichen Verhalten der Individuen abgeleitet werden, indem beispielsweise aus der Gegenüberstellung von Lohndifferenz und Erhöhung des Sterberisikos eines gefährlicheren Berufes auf die individuelle Bewertung von Leben geschlossen wird. Gebräuchlicher ist die Ermittlung der Zahlungsbereitschaft aus einer direkten Befragung der Individuen, bei der die Befragten hypothetische Sachverhalte monetär bewerten sollen. Allerdings sind mit der Ermittlung individueller Zahlungsbereitschaft auch verschiedene Probleme verbunden.

Zum Beispiel?

Greiner: Da individuelle Zahlungsbereitschaften aufgrund persönlicher Charakteristika stark variieren können, gilt es, einen Selektionsbias möglichst zu vermeiden. Zudem könnten Probanden invalide Angaben machen, da sie mit der Entscheidungssituation überfordert sind oder die Ergebnisse bewusst manipulieren wollen. Auch beziehen Probanden häufig keine Opportunitätskosten in ihre Entscheidungen ein. Anders als zum Beispiel in Großbritannien gibt es in Deutschland aber weder eine Tradition in der gesellschaftlichen Diskussion dieser Fragen noch den politischen Willen dazu.

Weil…

Greiner: … die Sorge vor impliziter Rationierung zu groß ist. Im Grunde ist es auch nicht notwendig, hier einen festen Wert für eine Obergrenze der Zahlungsbereitschaft zu finden. Es zeigt sich in anderen Ländern, dass allein das Bestehen von Kosten-Nutzen-Überlegungen schon dazu führt, dass sich die Beteiligten der höheren Transparenz bewusst werden und entsprechend rationaler handeln.

Die Politik hat in Deutschland keinen direkten Einfluss auf Arzneimittelpreise, haben wir deshalb hierzulande unpolitische Arzneimittelpreise, im Vergleich zu anderen Ländern?

Greiner: Gesundheitspolitik baut in Deutschland grundlegend auf dem Subsidiaritätsprinzip auf. Der Gesetzgeber hat viele Regulierungskompetenzen – auch in der Preisgestaltung neuer Arzneimittel – aus gutem Grund, nämlich der maßgeblich dort vorhandenen Kompetenz, an die Selbstverwaltung delegiert. Politik setzt dabei die Leitplanken wie zum Beispiel, dass sich Erstattungsbeträge neuer Arzneimittel am tatsächlichen Mehrwert für die Patientinnen und Patienten orientieren sollen. Die damit verbundenen methodischen, ethischen oder ökonomischen Fragestellungen fallen wiederum auf der Ebene der Selbstverwaltung an und sind dort zu diskutieren. Die Idee, Erstattungsbeträge neuer Arzneimittel zwischen den an der Versorgung beteiligten Parteien verhandeln zu lassen, ist auch als Ergebnis politischen Scheiterns, zum Beispiel bei der Einführung einer Positivliste, zu sehen. Heute ist dieses Verfahren ein Erfolgs-modell und Blaupause für Modelle in anderen Ländern.

Zur Person
Prof. Dr. Wolfgang Greiner ist Inhaber des Lehrstuhls für „Gesundheitsökonomie und Gesundheitsmanagement“ an der Universität Bielefeld. Er ist Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen beim Bundesgesundheitsministerium. Er gehört zudem den wissenschaftlichen Beiräten der Techniker Krankenkasse, der DAK sowie des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen an. Greiner ist außerdem Vorsitzender des Landesschiedsamtes Niedersachsen für die vertragszahnärztliche Versorgung. Seine wissenschaftlichen Schwerpunkte sind unter anderem: Evaluation von Gesundheitsleistungen, Lebensqualitätsforschung sowie Health Technology Assessment.