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Too Much?

Neuartige Therapien in der Gesetzlichen Krankenversicherung

Berlin (pag) – Ist das GKV-System ausreichend auf Arzneimittel für neuartige Therapien (Advanced Therapy Medicinal Products, kurz ATMP) vorbereitet? Brauchen Verfahren und Instrumente ein Update? Nicht zuletzt zeigen insbesondere die Gen- und CAR-T-Zelltherapien, dass sich die Grundsatzfrage nach der Zahlungsbereitschaft mit neuer Dringlichkeit stellt.

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Eine Revolution in der Behandlung prophezeit die Techniker Krankenkasse (TK), als sie im vergangenen Jahr den Drug-Future-Report präsentiert. Die neuen Gentherapien für die Bluterkrankheit markierten den Beginn einer neuen Ära, heißt es auf der Pressekonferenz. Angesichts des zu erwartenden Innovationsschubes und des damit verbundenen finanziellen Sprengstoffes verlangt der TK-Vorstandsvorsitzende Dr. Jens Baas, das System an zukünftige Gegebenheiten anzupassen. Ein konkreter Vorschlag seitens der Kasse ist etwa der dynamische Evidenzpreis. „Sonst stehen wir in ein paar Jahren vor dem Problem, dass wir reihenweise neue Therapien haben, die durch das System von Zulassung und Erstattung fallen und daher in Deutschland den Patienten nicht zur Verfügung stehen“, warnt der TK-Chef. Den Handlungsdruck sehen auch andere Akteure – zumal wenn künftig nicht mehr wie bisher nur seltene Leiden, sondern auch Volkskrankheiten mit den neuartigen Therapien behandelt werden sollten. Beispiel Blutertherapie: Laut TK wendet die GKV für die aktuelle Standardtherapie derzeit insgesamt etwa 480 Millionen Euro auf. Bei der Einführung der für 2023 erwarteten Gentherapie für diese Krankheit könnten die GKV-Ausgaben auf vier Milliarden Euro steigen. Das wären rund zehn Prozent der gesamten Arzneimittelausgaben.

Die Zolgensma-Prämiere

In den folgenden Monaten ist es dann insbesondere eine Gentherapie zur Behandlung der spinalen Muskelatrophie, Zolgensma, die für viel Wirbel sorgt. Neben der Vergabe per Lotterieverfahren ist vor allem der Preis von 1,9 Millionen Euro aufsehenerregend. Wenig überraschend ist daher, dass der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) dieses Arzneimittel für die Premiere der Anwendungsbegleitenden Datenerhebung (AbD) auswählt. „Zolgensma hat uns schon in der Vergangenheit vor der Zulassung sehr intensiv beschäftigt und wird uns auch weiterhin beschäftigen“, kommentiert der unparteiische G-BA-Vorsitzende Prof. Josef Hecken, als das Plenum am 16. Juli für die in Europa frisch zugelassene Gentherapie die Erforderlichkeit einer AbD feststellt.
Diese Datenerhebung im realen Versorgungsalltag wurde mit dem „Gesetz für mehr Sicherheit in der Arzneimittelversorgung“ eingeführt. Damit soll die Datenbasis für die Zusatznutzen-Bewertung von Arzneimitteln zur Behandlung seltener Erkrankungen und von Arzneimitteln mit bedingter Zulassung verbessert werden.

AMNOG-Verfahren: Up to date?

Darüber hinaus hat der Gesetzgeber Anfang des Jahres mit dem „Fairer-Kassenwettbewerb-Gesetz“ festgelegt, dass für alle ATMPs eine Nutzenbewertung nach Paragraf 35a SGB V durchgeführt und nachfolgend ein Erstattungsbetrag verhandelt wird. Einzige Ausnahme: Knorpelprodukte. Damit ist Schluss mit der Unsicherheit, ob das jeweilige Produkt eine Methodenbewertung oder das AMNOG-Verfahren zu durchlaufen hat. Bleibt allerdings die Frage, ob das AMNOG-Verfahren selbst, das immer wieder als lernendes System gelobt wird, für Gentherapien und Co. noch up to date ist.
Was die Zusatznutzen-Bewertung von ATMPs so verzwickt macht, sind die relativ kleinen Studiengrößen, häufig ohne Vergleichsarm. Hinzu kommen Schwierigkeiten, eine zweckmäßige Vergleichstherapie zu definieren, und nicht zuletzt eine lange Wirkdauer, die sich aber erst im Verlauf beweisen muss. Nicht von ungefähr konstatiert der von der DAK herausgegebene AMNOG-Report 2019, dass die Umsetzung einer nutzenbasierten Preisfindung bei sogenannten one-shot-Therapien mit „hoher Unsicherheit“ verbunden sei.

Das Versprechen

Noch deutlicher wird Dr. Antje Haas, Abteilungsleiterin Arzneimittel beim GKV-Spitzenverband, in ihrem Beitrag zum AMNOG-Report. Für das Versprechen des Herstellers, dass eine einmalige Anwendung der ATMP zur Heilung führe, fehle der Nachweis, kritisiert sie. Sicher seien nur die enormen Ausgaben für die GKV.
Haas sieht bei den neuartigen Therapien die gängigen Verfahren zur Bewertung des Nutzens und zur Feststellung eines angemessenen Erstattungsbetrages vor neuen Herausforderungen. Reichen ergänzende Instrumente wie die Anwendungsbegleitende Datenerhebung, die sich noch bewähren muss, und erfolgsorientierte Vergütungsmodelle aus, um diese zu bewältigen? Sind sie als Reaktion auf eine Revolutionierung der Behandlung ausreichend, oder ist es in dieser Umbruchphase an der Zeit, die Kosten in die Bewertung mit einzubeziehen, sprich die Kosten-Nutzen-Bewertung aus dem Dornröschen-Schlaf zu erwecken, wie es Gesundheitsökonomen bereits seit Längerem fordern?

Kosten und Nutzen bewerten

Möglich wäre es. Schließlich arbeitet das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, das vor elf Jahren eine reichlich kontroverse Methode für die Kosten-Nutzen-Bewertung veröffentlicht hat, nach eigenen Angaben kontinuierlich an einer Weiterentwicklung und ist auf eine Beauftragung vorbereitet. Auch auf Kassenseite ist man nicht abgeneigt. „ATMPs laden zur Kosten-Nutzen-Bewertung ein“, meint etwa Haas.
Um Kosten-Nutzen-Bewertungen von ATMPs ins Verfahren einzubringen, sei allerdings eine offene Diskussion zwischen G-BA, pharmazeutischen Unternehmern und dem GKV-Spitzenverband notwendig, mahnt der Gesundheitsökonom Prof. Wolfgang Greiner von der Universität Bielefeld (Lesen Sie dazu das Interview auf Seite 18). Es gehe darum, in welcher Form und vor allem auf welcher Datenbasis Kosten-Nutzen-Bewertungen sinnvoll in die bisherige AMNOG-Systematik als zusätzliche Entscheidungsgrundlage eingebunden werden können. Außerdem fordert er einen erneuerten Austausch zwischen den Verfahrensbeteiligten und der maßgeblich tangierten Fachöffentlichkeit – Medizinern, Ökonomen und Ethikern – über die Methoden der Kosten-Nutzen-Bewertung.

Was ist Heilung wert?

Jenseits von den methodischen Feinheiten einer möglichen Kosten-Nutzen-Bewertung bleibt festzuhalten, dass mit ATMPs die noch immer ungeklärte Grundsatzfrage nach dem gerechten Preis für Therapien neue Brisanz gewinnt. Doch obwohl bereits anlässlich der Zulassung von Sovaldi vor einigen Jahren ausgiebig darüber diskutiert wurde, was Heilung einer Gesellschaft wert sein sollte, sind wir in dieser Frage nicht wesentlich weitergekommen. Allerdings hat sich inzwischen der Fokus der Debatte verschoben, meint Greiner: von der Angemessenheit der Preise hin zu der grundsätzlichen Frage der Finanzierbarkeit.
Solche Themen sind für die Politik unbequem, Rationierung lautet der Tabubegriff. Auf einer Veranstaltung der Verbandes Managed Care hat Dr. Thomas Müller, Abteilungsleiter Arzneimittel im Bundesgesundheitsministerium (BMG), vor einiger Zeit deutlich gemacht, dass er nicht daran glaubt, dass eine Kosten-Nutzen-Bewertung dabei hilft, einen richtigen und gerechten Preis für Arzneimitteln zu finden. Es gehe vielmehr darum, einen Ausgleich zu finden, erläutert er – und zwar zwischen einem solidarischen Gesundheitssystem mit Zwangsbeiträgen einerseits und der Aufrechterhaltung von Chancen für einen kontinuierlichen Nachschub an neuen Arzneimitteln andererseits.

 

Arzneimittel für neuartige Therapien (ATMPs) sind Arzneimittel für die Anwendung beim Menschen, die auf Genen, Geweben oder Zellen basieren. Sie bieten innovative Möglichkeiten zur Behandlung von Krankheiten und Verletzungen. © iStockphoto, gremlin

Die Preisfrage

Müller will die Diskussion zu hochpreisigen Arzneimitteln nicht auf die reine Höhe des Preises reduzieren, denn: „Der Preis spielt eine ganz wichtige Rolle, damit zukünftige Generationen von Patienten auch neue Medikamente bekommen“, sagt der BMG-Vertreter und verweist auf notwendige Anreize für Finanzinvestoren.
„Arzneimittel hängen nicht am Baum und müssen einfach nur geernet werden.“ Dafür werde viel Kapital benötigt, das Problem sei jedoch, dass die Kapitallage für Biotech in Europa deutlich schlechter sei als in anderen Ländern. Das wiederum verhindere Innovation in Europa. Die Gefahr: Innovationen werden nur noch aus Drittstaaten eingekauft.
Dieses Szenario lässt sich bei den ATMPs nicht von der Hand weisen. Deutschland gehörte in den Anfängen der Entwicklung zu den Pionierländern. Mittlerweile sieht das ganz anders aus. Der jüngst erschienene Biotech-Report 2020 des vfa bio nennt folgende Studienzahlen: Zwar belegt Deutschland 2018 bei der Zahl der Gentherapien den dritten Platz, liegt aber mit 4,4 Prozent der Studien weit hinter den USA (47,5 Prozent) und China (39,2 Prozent). Selbst auf ganz Europa entfallen zusammengenommen nur 10,4 Prozent der Studien. Ähnlich das Bild bei der CAR-T-Zelltherapie. Hier führt China (231 Studien) vor den USA (163 Studien). Erst dann folgen auf Platz 3 Deutschland, Frankreich und Großbritannien (mit jeweils nur 21 Studien), heißt es im Report. Als Ursache für das schlechte Abschneiden wird neben fehlenden ATMP-Clustern auch eine  begrenzte Innovationskultur hierzulande genannt: „Insgesamt besteht so die Gefahr, dass Deutschland zum Importeur medizinischer Innovationen auf dem Gebiet der ATMP wird, ohne eigene wirtschaftliche Vorteile aus deren medizinischem Potenzial zu generieren.“ Um eine „ATMP welcome“-Kultur hierzulande zu etablieren, sollten eine entsprechende Taskforce und ein Deutsches Zentrum der Gesundheitsforschung für ATMP gegründet werden, schlagen die Reportautoren vor.
Keine Taskforce, aber immerhin eine ATMP-Arbeitsgruppe ist im BMG geplant. Ein Anfang immerhin, denn die Herausforderungen, mit denen die neuartigen Therapien das System konfrontieren, sind vielfältig und komplex.

ATMPs in der Zulassung
ATMPs sind Arzneimittel für neuartige Therapien und umfassen Gentherapeutika, somatische Zelltherapeutika sowie biotechnologisch bearbeitete Gewebeprodukte. Das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) ist in Deutschland für diese Arzneimittelgruppe zuständig. Seit August besteht eine Meldepflicht beim PEI für jede ATMP-Anwendung. Insbesondere für Patienten mit schweren Krankheiten wurden in letzter Zeit einige Gentherapeutika zugelassen. Im Mai 2020 hatten in der EU zehn ATMP eine zentrale Zulassung, davon sieben Gentherapeutika. Laut Biotech-Report 2020 wurden fünf weitere ATMPs nach der Zulassung vom Markt genommen. Fünf Gnetherapeutika befinden sich derzeit im EU-Zulassungsverfahren (Stand Mai 2020). Für dieses Jahr wird mit insgesamt zehn Zulassungsanträgen gerechnet, für 2021 sogar mit 25.