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Datenlandschaft im Aufbau

Mehr Nutzung, Akzeptanz und Autonomie

Berlin (pag) – Im Gesundheitswesen wird eine Vielzahl von Daten produziert. Doch noch immer stößt deren Nutzung auf vielfältige Hindernisse. Ist die Zeit reif, ganz grundlegend umzudenken?

© iStockphoto, Bet_Noire

Im Herbst haben gleich drei Ministerien – das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), das Bundesgesundheitsministerium (BMG) und das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWI) – eine Roadmap zur Initiative „Daten für Gesundheit“ veröffentlicht. Folgende Ziele werden darin postuliert: Die wissenschaftsbasierte Auswertung gesundheitsrelevanter Daten soll die Patientenversorgung verbessern, der medizinische Fortschritt soll vorangetrieben werden und – last but not least – geht es den drei Ressorts darum, die Innovationskraft des Standorts Deutschland zu steigern.

Strategien, Gesetze und Initiativen

Diese Initiative ist nur eine von vielen, die dem digitalen Wandel den Weg bereiten soll. Die Bundesregierung hat die engere Vernetzung von Patientenversorgung und Gesundheitsforschung bei der Nutzung von digitalen Gesundheitsdaten zu einer ihrer zwölf Missionen in der Hightech-Strategie 2025 erklärt. Außerdem werden in der Roadmap genannt: die Umsetzungsstrategie Digitalisierung, die Datenstrategie sowie die Strategie Künstliche Intelligenz und die Blockchain-Strategie der Bundesregierung. Hinzu kommen die Digitalstrategie „Gestaltung der digitalen Zukunft Europas“ und die Europäische Datenstrategie (European Strategy for Data) der Europäischen Kommission.

Strategien, wohin man auch schaut

Auch auf der Ebene der Gesetzgebung ist das BMG sehr aktiv, etwa mit dem Digitale-Versorgung-Gesetz und dem Patientendaten-Schutzgesetz. Gegenwärtig wird ein drittes Digitalisierungsgesetz auf den Weg gebracht. Wichtige Impulse werden darüber hinaus mit der BMBF-unterstützten Medizininformatik-Initiative, dem geplanten Forschungsdatenzentrum, das beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte angesiedelt werden soll, und der nationalen Forschungsdateninfrastruktur gesetzt. Außerdem arbeiten der Health Innovation Hub des BMG, die Gematik, der Digitalverband Bitkom und der Bundesverband Gesundheits-IT gerade im offenen Prozess an der Fortsetzung ihres Strategiepapiers „Interoperabilität 2025“.
Die Vielzahl an Strategien, Gesetzen und Initiativen zeigt die Komplexität des Themas. Viel tut sich – endlich auch an Stellen, an denen lange Zeit Blockade auf der Tagesordnung stand, wie bei der Gematik. Dennoch ist der Befund in einem Gutachten mehrerer Wissenschaftler, das kürzlich veröffentlicht wurde, noch immer ziemlich ernüchternd: „Für eine Nachnutzung seitens der medizinischen Forschung interessante und relevante Daten sind im Gesundheitssystem vielfach vorhanden, aber verteilt über viele Akteure und Institutionen und zudem rechtlich und technisch nur sehr begrenzt verfügbar und verknüpfbar.“

Was bringt eine Datenspende?

Das Gutachten im Auftrag des BMG haben unter anderem PD Dr. Sven Zenker und Sebastian C. Semler, Geschäftsführer der Technologie- und Methodenplattform für die vernetzte medizinische Forschung (TMF), verfasst. Sie sind davon überzeugt, dass eine Datenspende für die sekundäre Datennutzung im Unterschied zum jetzigen Verfahren die Qualität, Fairness und Effizienz der Gesundheitsversorgung und der medizinischen Forschung stark fördern könnte. Die Idee ist nicht neu. Auch der Deutsche Ethikrat und Forschungs- und Digitalpolitiker der CDU/CSU-Bundestagsfraktion haben sich mit dem Thema befasst (siehe Infokasten).

„Mit Daten Leben retten“
Parallel zum Gesetzgebungsverfahren des Patientendaten-Schutzgesetzes haben Gesundheits-, Forschungs- und Digitalpolitiker der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Ende Mai ein Positionspapier verfasst. Der Titel lautet „Mit Daten Leben retten: Für eine bessere Patientenversorgung durch Digitalisierung und Gesundheitsforschung“. Sie können sich unter anderem „perspektivisch“ vorstellen, dass in Deutschland ansässige forschende Unternehmen der Gesundheitswirtschaft in den Kreis der Antragsberechtigten für das Forschungsdatenzentrum aufgenommen werden. Darüber hinaus machen sie sich für eine verlässliche Infrastruktur stark, in der Datenflüsse zwischen Patienten, Versorgung und Forschung koordiniert werden. Den Unionspolitikern schwebt eine zentrale nationale Instanz nach Vorbild des US-amerikanischen „Office of the National Coordinator for Health Information Technology“ vor.

Zenker und Semler plädieren bei der Datenspende für ein einfach auszuübendes Widerspruchsmodell (opt-out). Besonders wichtig ist ihnen: Die Spende sollte zeitlich und räumlich vom Kontext einer medizinischen Behandlung entkoppelt und stattdessen im normalen Alltagsleben verankert werden. „Die Akutversorgung ist ein ungünstiger Zeitpunkt, um sich mit einer längeren Aufklärung zu Forschungsprojekten zu befassen – insbesondere, wenn diese komplexe Fragestellungen verfolgen oder infrastrukturell angelegt sind“, sagt Semler. Die Bürger sollten besser angesprochen werden, bevor sie in eine medizinische Notsituation kommen. „Denn eine informierte Entscheidung fällt leichter, wenn man sie mit relativ freiem Kopf fällen kann“, argumentiert Zenker.

 

 

 

 







Mehr Nutzung, Akzeptanz und Autonomie

Der ärztliche Leiter der Stabsstelle Medizinisch-Wissenschaftliche Technologieentwicklung und -koordination am Universitätsklinikum Bonn nennt noch einen weiteren Grund für eine breite Bürgerbeteiligung: die deutliche Selektionsverzerrung. Zum Beispiel können nur die Patienten der Universitätsmedizin befragt werden, die zum Zeitpunkt der Aufnahme noch ansprechbar und einwilligungsfähig sind, sodass bestimmte Krankheitsbilder und schwere Verläufe systematisch von der Datennutzung ausgeschlossen werden. Es geht den Wissenschaftlern also darum, ein Informationsangebot außerhalb des Akutkontextes zu schaffen. „Für mehr Datennutzung brauchen wir mehr Akzeptanz, mehr Akzeptanz geschieht durch mehr Patientenautonomie und die Patientenautonomie steigern wir nicht durch eine Vielzahl immer länger werdender Informations- und Einwilligungsunterlagen“, sagt Semler. Solche Prozesse sollten sinnvoll organisiert werden, das bedeutet: leistbar für die eine Seite sowie verständlich, überschaubar und beurteilbar für die andere Seite – die Bürger bzw. Patienten. Für Semler macht das Ganze nur dann Sinn, wenn man aus dem Projektzusammenhang hinausgeht. „Damit brauche ich einen neuen Akteur, der die grundsätzliche Spende verwaltet.“

Wie geht es weiter?

Eine solche projektübergreifende Entität, wie Semler es nennt, sollte völlig unabhängig von derzeit laufenden Verfahren gedacht werden. „Würde man neue Anforderungen zur Datenspende beispielsweise schon jetzt an die ePA-Einführung richten, wäre damit das Projekt überfrachtet“, befürchtet der Experte. Es handelt sich ohnehin um eine langfristige Idee, die Strukturen von morgen vorausdenken soll. Die politische Debatte dazu beginnt gerade erst. Die Autoren des Gutachtens haben mit Patientenorganisationen wie der Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) Selbsthilfe und dem Aktionsbündnis Patientensicherheit einen Workshop veranstaltet. Geplant sind jetzt Gespräche mit Abgeordneten. Fest steht nämlich, dass sich die ehrgeizigen Pläne der Wissenschaftler im derzeitigen Rechtsrahmen nicht verwirklichen lassen. Ein langer Atem ist gefragt. Aber vielleicht ist es ja genau dieser Paradigmenwechsel, den das hiesige System so dringend benötigt.

 

Souveräner Umgang mit Gesundheitsdaten
Auch das BMBF fördert das Thema Datenspende: Die Voraussetzungen für einen verantwortungsvollen und reflektierten Umgang mit Gesundheitsdaten stehen im Zentrum eines neuen Forschungsprojekts, das von Informatikerinnen und Informatikern der Freien Universität Berlin koordiniert wird. Ziel des Forschungsvorhabens „WerteRadar – Gesundheitsdaten souverän spenden“ ist es, eine integrative und interaktive Software zur reflektierten Weitergabe von Gesundheitsdaten zu konzipieren, zu evaluieren und umzusetzen. Gefördert wird WerteRadar vom BMBF mit rund 480.000 Euro, die Laufzeit beträgt drei Jahre.