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Kontroverse zu Corona-Immunitätsbescheinigung

Pro und Contra mit Prof. Simon und Prof. Gethmann vom deutschen Ethikrat

Berlin (pag) – Macht eine staatlich kontrollierte Immunitätsbescheinigung Sinn? Derzeit nicht, findet der Deutsche Ethikrat einstimmig angesichts der noch bestehenden Unsicherheiten zur Immunität gegen das neuartige Coronavirus. Für den Fall, dass die Immunität künftig verlässlich nachweisbar wird, gehen die Meinungen allerdings auseinander.

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Die Hälfte der Ratsmitglieder kommt auf Basis risikoethischer Abwägungen zu dem Ergebnis, dass bei günstiger Entwicklung der naturwissenschaftlich-medizinischen Voraussetzungen mindestens eine stufenweise, anlassbezogen wie bereichsspezifisch ansetzende Einführung einer Immunitätsbescheinigung unter bestimmten Bedingungen sinnvoll wäre. Teilweise wird auch ein weiter reichender Einsatz für verantwortbar erachtet. Für die andere Hälfte der Mitglieder führen praktische, ethische und rechtliche Gründe zu einer Ablehnung des Einsatzes von staatlich kontrol-lierten Immunitätsbescheinigungen – selbst dann, wenn Unsicherheiten mit Blick auf den Sachstand in Zukunft nicht länger bestünden.  Lesen Sie im Folgenden ein Pro und Contra der beiden Ratsmitglieder Prof. Judith Simon und Prof. Friedrich Gethmann.

Prof. Carl Friedrich Gethmann
Der Immunitätsausweis dient der gesundheitlichen Sicherheit aller Bürger

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Der Philosoph Prof. Carl Friedrich Gethmanm ist seit 2012 Professor am Forschungskolleg „Zukunft menschlich gestalten“ der Universität Siegen. Zuvor war er unter anderem Direktor der Europäischen Akademie zur Erforschung von Folgen wissenschaftlich-technischer Entwicklungen. Gethmann ist seit 2013 Mitglied des Deutschen Ethikrates, von 2000 bis 2010 war er Mitglied der Bioethik-Kommission des Landes Rheinland-Pfalz. © Deutscher Ethikrat

Aus Sicht der Befürworter einer an Bedingungen geknüpften Zulassung von Immunitätsausweisen besteht bezüglich der Erforschung von Covid-19 und seiner medizinischen Effekte eine so hohe Dynamik, dass der Exekutive vorsorglich normative Orientierungen an die Hand gegeben werden sollten, nach denen im Falle einer günstigeren Evidenzlage zu verfahren ist. Dem liegen vor allem folgende Überlegungen zugrunde:

I:     Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und risikoethische Erwägungen verlangen, dass grundgesetzlich garantierte Freiheiten, die pandemiebedingt eingeschränkt werden, so weit wie möglich dem Bürger zurückgegeben werden. Das bedeutet, dass unter Umständen Risiken hinzunehmen sind, wie sie auch sonst im klinisch-medizinischen Kontext und in vielen anderen Lebensbereichen akzeptiert werden. Hier wie in anderen Lebensbereichen ist ein Null-Risiko eine Illusion, die rationales Handeln konterkariert.
 
II:     Die gebotene Abwägung von Risiken und Chancen spricht im Rahmen eines gestuften Vorgehens dafür, Immunitätsnachweise mindestens anlass- und bereichsbezogen in bestimmten, gesetzlich zu regelnden Fällen zu verwenden, beispielsweise:
–    zur Wahrung der Interessen von Personen, die Covid-19-assoziiert besonders vulnerabel sind;
–    zur Ausübung von Berufen, deren Ausübung eine räumliche oder physische Nähe zu anderen Personen voraussetzt.

III:     Zu gewährleisten ist eine im Lichte der medizinischen Erkenntnisse zur Dauer einer Immunität vertretbar begrenzte Gültigkeit einer Immunitätsbescheinigung. Die gesetzliche Regelung der Immunitätsbescheinigungen sollte befristet erfolgen.

IV:     Immunitätsbescheinigungen können nicht nur die Rücknahme von Freiheitsbeschränkungen bewirken, sondern umgekehrt im Interesse des Gemeinwohls zu besonderen Verpflichtungen bei der Pandemiebekämpfung führen. Allerdings dürfen Immunitätsbescheinigungen grundsätzlich nur auf Basis freiwilliger Entscheidungen angestrebt werden.

V:     Hinsichtlich des Bedenkens, die Gewährung von Immunitätsnachweisen werde von manchen als Privilegierung betrachtet, die konvers als Diskriminierung erfahren werden könnte, ist zu bemerken, dass die Rückgewähr von Freiheitsrechten auch unter Pandemiebedingungen eine Schuldigkeit des Staates ist, die – im Unterschied beispielsweise zu ermessensbestimmten Zuwendungen – mit den Kategorien von Privilegierung und Diskriminierung nicht adäquat erfasst wird. Auch die Metapher von der „Spaltung der Gesellschaft“ ist hier fehl am Platze; so wie die Beschränkung der Fahrerlaubnis auf Führerscheinbesitzer eine gerechtfertigte Restriktion im Interesse aller (auch der Nicht-Führerscheinbesitzer) ist, dient ein Immunitätsausweis der gesundheitlichen Sicherheit aller Bürger.

VI:    Zu den Risiken der Einführung von Immunitätsnachweisen gehören Probleme des Missbrauchs beispielsweise durch gezielte Selbstinfektion, um auf diese Weise in den Besitz eines Immunitätsnachweises zu kommen, darüber hinaus auch Betrugsmöglichkeiten vieler Art. Wie in anderen Lebenskontexten auch ist solchen Problemen regulatorisch (Ordnungsrecht, Strafrecht) entgegenzutreten.

Mit einem Teil der zwölf Ethikratsmitglieder unterstütze ich auch die ergänzende Positionierung, dass unter der Bedingung kluger Regulierung und sorgfältiger, fortlaufender Kontrolle eine umfassende Verwendung (ohne Einschränkung auf bestimmte Handlungskontexte) von Immunitätsbescheinigungen verantwortbar ist. Die Unvermeidbarkeit von Ungewissheit im Pandemie-Kontext darf so wenig wie in anderen Lebensbereichen die Notwendigkeit, Freiheitsbeschränkungen zurückzunehmen, infrage stellen. Die Beweislast liegt grundsätzlich aufseiten des freiheitsbeschränkenden Staates und nicht des freiheitsbegehrenden Bürgers.
Ferner halte ich es mit einem Teil der Ratsmitglieder schon jetzt für erwägenswert, eine nach heutiger Erkenntnis – nach überstandener Erkrankung – bestehende erhöhte Abwehrkraft gegen SARS-CoV-2 zu nutzen, um im Rahmen eines qualitätsgesicherten und freiwilligen Verfahrens von Covid-19 genesene Personen bevorzugt an Positionen mit höherem Infektionsrisiko einzusetzen.

Prof. Judith Simon
Gefahr einer Zwei-Klassen-Gesellschaft

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Prof. Judith Simon ist Professorin für Ethik in der Informationstechnologie an der Universität Hamburg. Zuvor war sie unter anderem Associate Professor für Wissenschaftstheorie und Technikphilosophie an der IT University in Kopenhagen. Sie ist Mitglied des Deutschen Ethikrates und der Arbeitsgruppe Digitalisierung und Demokratie der Leopoldina. Außerdem hat Simon in der Datenethikkommission der Bundesregierung mitgearbeitet. © Deutscher Ethikrat

Immunitätsbescheinigungen, welche im Kontext der Covid-19-Pandemie individuelle Freiheiten einräumen oder besondere Pflichten etablieren könnten, sind aus wissenschaftlichen, ethischen und praktischen Gründen abzulehnen. Zunächst erscheint es mit Blick auf die aktuelle wissenschaftliche Erkenntnislage unwahrscheinlich, dass eine Infektion mit SARS-CoV-2 zu einer hinreichend lange anhaltenden und verlässlichen Immunität bei allen, auch asymptomatisch Infizierten, führt.

Bei der ethischen Bewertung müssen individuelle Rechte und Pflichten ins Verhältnis gesetzt werden zu Fragen der gerechten Verteilung von Be- und Entlastungen. Bei einer Koppelung von Rechten oder Pflichten an den Status der Immunität sind ungerechte Verteilungen in zwei Richtungen möglich: Einerseits, wenn Personen ohne Immunitätsnachweis Möglichkeiten verwehrt würden (z.B. der Besuch einer Ausbildungsstätte). Andererseits, wenn Personen mit Immunitätsbescheinigung für bestimmte Tätigkeiten besonders in die Pflicht genommen würden (z.B. in Medizin und Pflege, Reinigung, Verkauf, Kitas oder Schulen). Hierbei ist insbesondere auf die Gefahr einer Verstärkung bestehender Benachteiligungen sowie die Gefahr einer Zwei-Klassen-Gesellschaft hinzuweisen.

Es gibt nur einen Bereich, in dem ein hinreichend sicherer Nachweis von Immunität zur individuellen Rückgewähr von Freiheit genutzt werden dürfte: zugunsten besonders vulnerabler Gruppen, etwa in Einrichtungen der Alten- oder Behindertenhilfe. Da diese Personengruppen erheblich unter strengen Isolationsmaßnahmen zu leiden haben, sollten nahestehende Personen, aber auch Seelsorger oder Hospizdienste – auf Grundlage gesicherter Kenntnis über ihre Immunität und Nichtinfektiosität – von bestimmten Auflagen befreit werden. Hierfür ist allerdings keine staatliche Immunitätsbescheinigung erforderlich. Ausreichend wäre eine Vorschrift im Immunitätsschutzgesetz, mit der Ärzte ermächtigt würden, die Immunität und Nichtinfektiosität für diese Personengruppe auf der Basis eines hinreichend aktuellen – bereits derzeit zur Verfügung stehenden – PCR-Tests oder aber eines – möglicherweise in Zukunft zur Verfügung stehenden – hinreichend zuverlässigen Antikörper-Tests zu bescheinigen.

Weiterhin gibt es praktische Aspekte, die gegen die Einführung von Immunitätsbescheinigungen sprechen. Trotz steigender Fallzahlen ist es aufgrund der geringen Dauer einer möglichen Immunität illusorisch anzunehmen, dass der Einsatz von Immunitätsbescheinigungen einen relevanten Effekt auf die Erholung der Wirtschaft oder die Versorgungslage im Sozial- und Gesundheitssystem hätte. Immunitätsbescheinigungen würden zudem Fehlanreize setzen, welche die derzeitige Pandemie-Schutz-Strategie konterkarieren könnten. So könnten sich Personen, etwa aus wirtschaftlicher Not oder um sich individuelle Vorteile zu sichern, mutwillig Infektionsrisiken aussetzen. Gerade in Arbeitsfeldern mit prekären Arbeitsbedingungen und/oder besonderen Infektionsrisiken wäre dies eine gleichermaßen gefährliche wie ungerechte Konsequenz. Weiterhin ist vor Erosionseffekten zu warnen, die vor allem ein breiter Einsatz freiheitsgewährleistender Immunitätsbescheinigungen in Bezug auf die Bereitschaft haben kann, sich an die allgemeinen Infektionsschutzmaßnahmen zu halten. Die genannten, mit der Einführung einer Immunitätsbescheinigung verbundenen Probleme stellen auch eine große Herausforderung für einen angemessenen Rechtsrahmen dar, beispielsweise in Bezug auf Missbrauchsgefahren, des Datenschutzes sowie des Arbeitsrechts.

Vor dem Hintergrund der ungewissen Erfolgsaussichten und der im Gesundheitsbereich nicht nur aus ökonomischer Sicht begrenzt zur Verfügung stehenden Mittel, erscheint es nicht verantwortungsvoll, erhebliche Ressourcen in die Etablierung und gesetzliche Verankerung von Immunitätsbescheinigungen – einem Instrument mit beschränktem Nutzen und hohen Nebenwirkungen – zu investieren, wenn diese Mittel auch für erfolgsversprechendere Maßnahmen verwendet werden könnten.