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Luft nach oben

Bei der ambulanten Ethikberatung liegt noch einiges im Argen

Berlin (pag) – Während die Ethikberatung in Kliniken längst etabliert ist, tut man sich außerhalb dieser Mauern bislang schwer damit. Die Gründe: Fehlende Mittel und Bekanntheit, aber auch Berührungsängste spielen eine Rolle.

Bereits 2008 beschloss der Deutsche Ärztetag, dass professionelle Ethikberatungen auch im ambulanten Bereich etabliert werden sollen. Die Zahl der Beratungsprojekte ist seitdem von Jahr zu Jahr angewachsen – von unter zehn auf 57, Tendenz weiter steigend, so die Akademie für Ethik in der Medizin (AEM). Ein wichtiger Grund für diese Entwicklung: „Die komplexe Versorgung von schwerkranken Menschen erfolgt zunehmend im außerklinischen Bereich.“ Das schreibt die Zentrale Ethikkommission (ZEKO) der Bundesärztekammer Anfang 2020 in ihrer Stellungnahme zum Thema ambulante Ethikberatung. In dem Maße, in dem sich das Versorgungsprofil verändert, steige auch der Unterstützungsbedarf im außerklinischen Bereich. Fragen, die künstliche Ernährung, eine Therapiebegrenzung oder -zieländerung betreffen, sind nicht mehr länger nur Gegenstand von Besprechungen in Krankenhäusern. Auch Pflegeheime, ambulante Dienste und niedergelassene Ärzte sehen sich mit ihnen konfrontiert. Eine Untersuchung von Wissenschaftlern der Universitätsmedizin Göttingen und der Universität Würzburg aus dem Jahr 2018 bestätigt diesen Eindruck. Sie zeigt, dass Hausärzte in ihren Praxen regelmäßig mit einer großen Bandbreite ethischer Konflikte in Berührung kommen.

 

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„Reichlich Probleme“

Bedarf besteht, die Zahl der außerklinischen Ethikberatungen steigt und dennoch konstatiert PD Dr. Carola Seifart mit Blick auf den aktuellen Stand der Implementierung: „Es gibt reichlich Probleme.“ Die Ärztin und Bioethikerin weist unter anderem darauf hin, dass eine einheitliche Qualität nicht gewährleistet sei.

Seifart ist Expertin für ambulante Ethikberatung bei der Akademie für Ethik in der Medizin und Mitentwicklerin eines Curriculums für ambulante Ethikberatung in Hessen, auf dessen Grundlage sich Ethikberater zertifizieren lassen können. Diese Zertifizierung ist allerdings, genau wie andere Curricula in dem Bereich, freiwillig. Ethikberater dürfen sich also auch jene nennen, die über keine Zertifizierung oder vergleichbare Qualifikationen verfügen. Aus Sicht von Seifart birgt das Gefahren, denn: „Unqualifizierte Ethikberatung sorgt dafür, dass Ethikberatung an Boden verliert.“

In ihrer Stellungnahme definiert die ZEKO Gütekriterien für die ambulante Ethikberatung. Neben einer angemessenen Qualifikation der Berater spricht sich die Kommission für die persönliche Einbeziehung der Patienten sowie eine multiprofessionelle Ausrichtung der Beratung aus. Außerdem solle die Entscheidungsunterstützung aus allen Bereichen des Versorgungssystems angefragt werden können – also ausdrücklich nicht nur von Ärzten. Nicht zuletzt benötige die Ethikberatung eine angemessene Finanzierung.

Wacklige Finanzierung

Wie Letzteres gelingen kann, ist nach Ansicht der ZEKO allerdings noch eine „offene Frage“. Viele Träger von Beratungsprojekten – meist regionale Palliativnetzwerke, Vereine oder Landes- und Bezirksärztekammern – verfügen über geringe finanzielle Mittel. „Nur etwa ein Viertel der Berater erhält eine Aufwandsentschädigung oder gar ein Honorar“, schreibt Seifart in einem Beitrag für das Hessische Ärzteblatt. Das habe eine Umfrage der AEM im Vorfeld einer Tagung ergeben, bei der im Jahr 2019 Ethikberater aus ganz Deutschland zusammenkamen. Die ZEKO fordert eine völlig neue Finanzierungsgrundlage. „Aktuelle und lokale finanzielle Unterstützung durch Vereine oder Spenden sind zwar eine wichtige Hilfe, sie können jedoch eine auf Dauer angelegte, qualitätsgesicherte außerklinische Ethikberatung nicht gewährleisten“, heißt es in der Stellungnahme.

Bei den Menschen ankommen

Unzureichende finanzielle Mittel beeinträchtigen auch das Beratungsprojekt im Landkreis Marburg-Biedenkopf in Mittelhessen, berichtet Kornelia Götze, die Projektleiterin der dort seit 2016 tätigen Regionalgruppe des Vereins Ambulante Ethikberatung in Hessen. Sie und ihre acht Mitstreiter sind ehrenamtlich engagiert. „Es bleibt also sehr wenig Zeit, um die Ethikberatung so zu etablieren, wie wir uns das wünschen würden, damit sie bei den Menschen ankommt“, sagt Götze, die am Universitätsklinikum Düsseldorf zu „Advance Care Planning“ forscht. Um die Ethikberatung zu etablieren wäre vor allem mehr Öffentlichkeitsarbeit notwendig, erklärt sie.

 

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Die mangelnde öffentliche Präsenz gilt als einer der Hauptgründe dafür, dass die Ethikberatung vielerorts bislang wenig in Anspruch genommen wird. So auch in Marburg-Biedenkopf. Im Schnitt falle innerhalb eines Zeitraums von zwei Monaten gerade mal eine Fallberatung an, berichtet Götze. Hinzu kämen einige telefonische Anfragen. „Ich empfinde das als sehr wenig, weil ich in meinem Arbeitsalltag sehr viel mehr Bedarf bei Pflegenden und Angehörigen sehe“, sagt Götze. Zumal die Rückmeldungen nach einer Beratung in der Regel positiv seien. „Die Menschen, zu denen wir gehen, sind immer sehr dankbar dafür.“ Allerdings: „Man muss sie immer erst auf die Idee bringen.“

Berührungsängste

Eine weitere Hürde ist die Logistik, erläutert Carola Seifart. Anders als im Krankenhaus, wo alle an einer Behandlung Beteiligten unter einem Dach zusammenarbeiten, gibt es im ambulanten Bereich weniger geregelten Austausch zwischen den einzelnen Akteuren. Die Wege sind weiter, die Vernetzung schlechter. Der Aufwand, Patienten, Ärzte, Pflegekräfte, Betreuer und Angehörige zeitgleich zu einer Beratung zusammenzubringen, ist immens. Hinzu kommen laut Seifart Berührungsängste bei einigen Beteiligten.

Götze bestätigt diesen Befund. Bei manchen Ärzten und Betreuern würde die Ethikberatung Bedenken hervorrufen, dass ihnen etwas weggenommen würde. „Wir legen ja in einer Beratung das komplette Geschehen auf den Tisch“, erläutert sie. „Denn nur so kann man eine gute Entscheidung treffen.“ Dass man bei ethischen Fragen Hilfe von externen Beratern in Anspruch nehmen kann, sei für viele generell etwas Neues. „Die meisten Menschen arbeiten lange in diesem Feld und sind es gewöhnt, die Aufgaben selbst zu lösen, gerade die etablierten Hausärzte und Hausärztinnen“, so Götze.

Neue Perspektiven

Möglicherweise könnte ein niedrigschwelligeres Angebot die ambulante Ethikberatung attraktiver machen. Das unterstreicht die Untersuchung der erwähnten Göttinger und Würzburger Wissenschaftler. Sie befragten Hausärzte nicht nur zur Häufigkeit ethischer Konflikte, sondern auch zu ihren Wünschen an eine ambulante Ethikberatung. Eine Beratung in herkömmlicher Form wünschten sich nur rund 30 Prozent der Befragten. Demgegenüber konnten sich mehr als 80 Prozent für eine Ethikberatung per Telefon begeistern. Zeit- und Organisationsaufwand schrecken Interessierte offenbar ab. Auch die ZEKO plädiert dafür, ungenutzte Potenziale abseits der Präsenzformate zu nutzen: Video- und Telekonferenzen ermöglichten es, „Ethikberatung über weite räumliche Distanzen sowie in dünn besiedelten ländlichen Gebieten ohne Zeitverlust anzubieten.“

In Marburg-Biedenkopf kündigen sich bereits Veränderungen in diese Richtung an: Die telefonische Beratung will Kornelia Götze mit ihrem Team ausbauen, allerdings nur für weniger zeitintensive Einzelberatungen. Videokonferenzen für größere Runden werden ebenfalls diskutiert, tangieren jedoch einen sensiblen Bereich: „Das Problem für mich ist, dass Ethikberatungen häufig emotional sind, wenn es um Leben und Tod geht“, sagt Götze. „Und genau dieser Aspekt kann dabei verloren gehen.“

 

„Viel Aufwand, aber noch wenig Ertrag“

Ethikberaterin Kornelia Götze spricht im Interview über bestehende Probleme und unge- nutzte Potenziale der ambulanten Ethikberatung.

Frau Götze, warum braucht es Ethikberatung im ambulanten Bereich?

Götze: Weil es in diesem Bereich kaum Strukturen gibt, die die Player im Alltag zusammenbringen. Ärzte und Pflege sind häufig auf sich allein gestellt. Im Krankenhaus gibt es Visiten, Kollegen treffen sich auf dem Flur. Im ambulanten Bereich ist das deutlich schwieriger zu organisieren. Hinzu kommt, dass mit der Intensivpflege, der 24-Stunden-Versorgung und Beatmung zu Hause ein ganzer Bereich ausgelagert wurde.

Wer fragt die Beratung an?

Götze: Das ist bunt gemischt: Es sind sowohl Angehörige und Patientinnen als auch Pflegende oder Ärzte. Auch Pflegeheime und Einrichtungen der Eingliederungshilfe haben sich an uns gewendet. Bei den Anfragen, die uns erreichen, wird aber nicht immer eine Ethikberatung benötigt. Manche wollen sich einfach über ihren Arzt beschweren. Dafür sind wir nicht die richtige Stelle. Ebenso wenn es Versorgungsprobleme gibt, weil jemand schwer krank ist. Es ist gar nicht so häufig, dass am Ende tatsächlich eine ethische Fragestellung überbleibt. Im Schnitt finden 0,5 Fallberatungen im Monat statt, also sechs im Jahr.

Könnte eine bessere finanzielle Ausstattung die Inanspruchnahme erhöhen?

Götze: Ich würde mir wünschen, dass die Stunden, die wir reinstecken, um die Ethikberatung durchzuführen, auch vergütet werden. Denn das ist eine hochprofessionelle Arbeit. Ich glaube, dass sich mit mehr Ressourcen die Probleme, die wir haben, tatsächlich lösen ließen, dass also die Inanspruchnahme steigen würde, weil es den Leuten einfach präsenter wäre.

Was tun Sie bisher, um Ihr Angebot bekannt zu machen?

© Privat

Götze: Wir sind zum Beispiel bei unserer Gesundheitskonferenz im Landkreis und den Betreuern und Betreuerinnen am Gesundheitsamt präsent. Bei der Gesundheitskonferenz sind Vereine, Pflegedienste, Palliativteams und viele weitere Akteure, man kann Kontakte knüpfen. Außerdem haben wir sehr viele Flyer gedruckt und gerade im Rahmen von Covid-19 noch einmal an alle Pflegeeinrichtungen verteilt.

 

 

ZUR PERSON
Kornelia Götze ist ehrenamtliche Leiterin der Regionalgruppe Marburg-Biedenkopf des Vereins Ambulante Ethikberatung in Hessen. In ihrem Hauptjob forscht die Allgemeinmedizinerin an der Universität Düsseldorf zum Thema „Advance Care Planning“.