Im Fokus

Mangel im Gesundheitswesen

Die Pandemie zwingt zur offenen Priorisierung

Berlin (pag) – Corona verlangt Menschen überall auf der Welt ab, sich mit vorher zum Teil undenkbaren Umständen zu arrangieren. Für die meisten Deutschen dürfte dazu auch gehören: mit Mangel in einem Gesundheitswesen konfrontiert zu sein, das sich selbst stets als „das beste der Welt“ preist.

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Einen richtig dramatischen, bitteren Mangel kennen hierzulande bislang vor allem jene rund 9.000 Menschen, die auf der Warteliste für ein Spenderorgan stehen. Die Rationierung der Nieren, Herzen, Lungen etc. erfolgt nach etablierten Kriterien, die nicht hinterfragt werden. Erfreulich ist nebenbei bemerkt, dass hierzulande offenbar die Zahl der Organspender in 2020 trotz Pandemie stabil geblieben ist.
Das Thema Mangel schleicht sich darüber hinaus in dieser Legislatur zunehmend als Dauerzustand in Form von Liefer- bzw. Versorgungsengpässen von Arzneimitteln ein. Durch Corona gestörte Lieferketten verstärken die Problematik. Gegenmaßnahmen, deren Wirksamkeit sich noch beweisen muss, hat die große Koalition mit dem Fairer-Kassenwettbewerb-Gesetz ergriffen. Arznei als Mangelware hat es zwar in die eine oder andere Schlagzeile geschafft, verharrt aber in den Publikumsmedien weiter als Nischenthema.

Das Tabu-Wort: Triage

Bei Corona hingegen geht es von Anfang an um Knappheit: Zuerst wurde um Beatmungsgeräte gebangt. Derzeit wird die Kapazität an Intensivbetten ängstlich beobachtet, wobei die entscheidendere Frage uns zur nächsten Ressourcenknappheit führt: ausreichend Fachpersonal, um die Patienten adäquat zu versorgen. Der Begriff Triage wird dabei ängstlich vermieden. Dabei weisen Experten wie der Medizinrechtsanwalt Dr. Tobias Witte darauf hin, dass in manchen Krankenhäusern bereits „Triage-ähnliche Entscheidungen getroffen“ werden müssen – allerdings vermeide es die Geschäftsführung, das Wort „Triage“ in den Mund zu nehmen. Die im Frühjahr formulierten Empfehlungen von Fachgesellschaften für jene Ärzte, die im schlimmsten Fall darüber entscheiden müssen, welcher Patient eine Behandlung erhält und welcher nicht, reichen nach Ansicht des Juristen nicht aus. „Je genauer ausgestaltet und je stärker demokratisch fundiert hier also die Vorgaben werden – was nur über eine gesetzliche Grundlage geschehen kann –, desto stärker entlastet man auch die Ärzte“, argumentiert er im Interview.

Wer fühlt sich benachteiligt?

Neben den Krankenhäusern, die mit ihren Ressourcen teilweise gefährlich nah am Limit sind, sorgt derzeit insbesondere der Mangel an Impfstoff für täglich neue Schlagzeilen. Lässt man das politische Schwarze-Peter-Spiel beiseite, so bleibt im Kern die Notwendigkeit und Herausforderung, eine Rangfolge festzulegen – zu priorisieren. Im Unterschied zur Organspende sind davon allerdings nicht einige Tausend Patienten, sondern alle Menschen betroffen. Der Mangel ist für alle spürbar. Eine transparente Priorisierungskultur in der Gesundheitsversorgung gibt es hierzulande nicht, stattdessen das politische Glaubensbekenntnis, dass alles für alle reicht. Jetzt reicht der Impfstoff jedoch definitiv erst einmal nicht.

Was die konkrete Priorisierung betrifft, fühlen sich derzeit vor allem zwei Gruppen benachteiligt: die niedergelassenen Ärzte sowie Behinderte. Inklusionsaktivist Raul Krauthausen kritisiert etwa, dass Behinderte oder chronisch Kranke, die nicht in einer Einrichtung, sondern zu Hause leben, vergessen worden seien. Als riskant kritisiert etwa der Präsident der Bundesärztekammer, Dr. Klaus Reinhardt, dass Niedergelassene in der Impfverordnung nicht mit der höchsten Priorität eingestuft worden sind. Ähnliches monieren etwa die ambulanten Operateure.

 

Von links: Inklusionsaktivist Raul Krauthausen, © Stefan Müller, CC BY 2.0, Dr. Klaus Reinhardt, Präsident der Bundesärztekammer und Rechtswissenschaftler Prof. Thorsten Kingreen © pag


Zuteilung von Lebenschancen

Mehrere Juristen haben dagegen mit der Verordnung an sich Probleme. Ihre Kritik lautet: Die durch eine Verordnung festgelegte Corona-Impfpriorisierung hätte eigentlich ein Gesetz sein müssen. Medizinrechtsanwalt Witte, der zu „Recht und Gerechtigkeit im Pandemiefall“ promoviert hat, vermisst eine parlamentarische Debatte über die Zuteilung und die Verabschiedung eines Bundesgesetzes zur Impfkampagne und Impfstoffzuteilung. Ähnlich klingt es kürzlich bei einer öffentlichen Anhörung im Gesundheitsausschuss des Bundestages. Dort stellt der Rechtswissenschaftler Prof. Thorsten Kingreen, Universität Regensburg, klar: Die grundsätzliche Frage nach einer Impfpriorisierung sei Aufgabe des Gesetzgebers, denn „es geht um die Zuteilung von Lebenschancen. In den nächsten Monaten werden Menschen nur deshalb sterben, weil für sie noch kein Impfstoff zur Verfügung stand“. Juristin Dr. Andrea Kießling, Ruhr-Universität Bochum, hält die Verordnung aus dem BMG für verfassungswidrig. „Das führt dazu, dass Einzelne natürlich klagen können“, sagt sie bei der Anhörung. Prof. Anna Leisner-Egensperger, ebenfalls Rechtswissenschaftlerin, vertritt dagegen eine andere Auffassung. Der Bundestag müsse regeln, dass priorisiert wird, welche Ziele eine Priorisierung zu verfolgen hat und die möglichen Priorisierungskriterien. „Dann muss die Aufstellung weiterer Priorisierungskriterien, einschließlich deren Rangfolge, verfassungsrechtlich zwingend an den Bundesgesundheitsminister delegiert werden.“ Allerdings vermisst die Professorin von der Friedrich-Schiller-Universität Jena eine eindeutige Rechtsgrundlage.

Diese juristischen Fragen scheinen lösbar zu sein – „einfach die Rechtsverordnung des Ministeriums nehmen, sie als Gesetzentwurf einbringen und das Problem ist in wenigen Tagen gelöst“, lautet beispielsweise Kingreens pragmatischer Vorschlag. Ungleich schwieriger ist derzeit abzuschätzen, wie die kollektive Mangelerfahrung der Bürger die Wahrnehmung des Gesundheitssystems langfristig beeinflussen wird. Dabei handelt es sich um ein System, das für Außenstehende schwer zu durchschauen ist und in dem implizite Priorisierungsfragen nur hinter verschlossenen Türen diskutiert werden. Möglich, dass das nicht länger hingenommen wird und kritische Nachfragen zunehmen. Die in den kommenden Jahren notwendig werdenden Einsparungen dürften eine solche Entwicklung begünstigen.

Triage: Viele offene Fragen
Der Gesundheitsausschuss des Bundestages hat sich Mitte Dezember mit Triage befasst. Die Vorsitzende des Deutschen Ethikrates, Prof. Alena Buyx, warnt insbesondere vor Ex-post-Triage, bei der eine laufende Behandlung zugunsten eines neuen Patienten mit besserer Prognose abgebrochen wird. Dies sei ethisch eine „ungeheuerliche Tragik“. Dr. Wiebke Pühler von der Bundesärztekammer weist darauf hin, dass die Prioritätensetzung während der Behandlung von Patienten immer Bestandteil ärztlicher Entscheidungen sei. Ärzte müssten Prioritäten setzen und könnten das auch. Sie mahnt, in der Pandemie sollten wegen einer möglichen Unterversorgung nicht nur die Intensivmedizin und Covid-19-Patienten in den Blick genommen werden, sondern alle medizinischen Bereiche – auch die ambulanten. Prof. Uwe Janssens von der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin hebt mit Blick auf Triage-Entscheidungen die Rechtsunsicherheit für Ärzte hervor, diese sei „unerträglich“. Auch der Jurist Stephan Rixen, ebenfalls Mitglied im Deutschen Ethikrat, kritisiert viele ungeklärte Fragen bezüglich der Triage. Er appelliert, die Diskriminierung bestimmter Patientengruppen müsse unbedingt ausgeschlossen werden.