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Bei der Debatte um Endpunkte tut sich etwas


Berlin (pag) – Endpunkte haben beim mittlerweile zehn Jahre alten AMNOG-Prozess seit Beginn für Reibereien gesorgt – und werden es wohl auch weiterhin. Oder ändern die sogenannten Endpunkte 2.0 in der Onkologie etwas daran?

Dass über Endpunkte häufig gestritten wird, kommt nicht von ungefähr, denn HTA-Institutionen haben darauf eine andere Sicht als Zulassungsbehörden oder auch Ärzte und Patienten in einer individuellen Behandlungssituation. Während bei der Zulassung auf Wirksamkeit, Qualität und Unbedenklichkeit geschaut wird, wägt der G-BA Nutzen und Zweckmäßigkeit unter Berücksichtigung einer besseren Versorgungsqualität ab. Die Folge: Was für Zulassungsbehörden oder Ärzte ein sinnvoller Endpunkt sein kann, gilt für den G-BA nicht notwendigerweise als patientenrelevant.

 

Konkreten Verbesserungsbedarf hat kürzlich der medizinische Leiter der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie (DGHO) beim Fachsymposium Onkologie Ende vergangenen Jahres angemeldet. Prof. Bernhard Wörmann sagt dort: „Ich glaube, dass noch mehr als bisher die Reduktion von Nebenwirkungen bei gleicher Wirksamkeit ein valider Endpunkt sein muss“ – gerade wenn es zunehmend in derselben Substanzklasse bis zu sechs Präparate gebe, die etwa gleich wirksam seien.


Wo sich die Zulassungsbehörden bewegen

Parallel zu den Auseinandersetzungen über bereits etablierte Endpunkte hat eine Diskussion über eine neue Generation von Endpunkten begonnen. Bei dem Symposium betont der Direktor des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), Prof. Karl Broich: „Wir bewegen uns als Zulassungsbehörde bei den Endpunkten in der Onkologie sehr stark.“ 
Neben dem Gesamtüberleben, dem härtesten Endpunkt, der am liebsten gesehen werde, und dem progressionsfreien Überleben, das schon lange als Alternative bekannt sei, stellt er weitere Endpunkte vor. So etwa das eventfreie Überleben (Event-free Survival, EFS) im kurativen Setting, hierzu gebe es viele Erfahrungen mit der akuten myeloischen Leukämie. Ähnliches gelte für das krankheitsfreie Überleben (Disease-free Survival, DFS) im adjuvanten Setting, bezogen beispielsweise auf Brustkrebs oder Kolorektalkarzinom. Ferner entwickelten sich die Regulatoren bei vielen Blutkrebserkrankungen weiter, bei denen die minimale Resterkrankung (Minimal Residual Disease, MRD) angesehen werde. Auch das metastasenfreie Überleben (Metastase Free Survival, MFS) sei beim Prostatakarzinom ein anerkannter Endpunkt. Anders sieht es Broich zufolge bei der Objective Response Rate aus. Bei einigen Verfahren sei diese anerkannt, bei anderen abschlägig beurteilt worden.


In puncto Biomarker stehe man noch ganz am Anfang, meint der BfArM-Präsident weiter, auf diesem Gebiet sei noch viel Entwicklungsarbeit nötig. Er prophezeit, dass die Digitalisierungsentwicklung und die größeren Datenmengen, die mittlerweile bearbeitet werden könnten, die regulatorische Welt „dramatisch“ verändern werden.


„Davon geht die Welt nicht unter“

Die Sichtweise des G-BA auf Endpunkte 2.0 stellt auf dem Onkologie-Symposium Dr. Uwe Vosgerau vor. Er leitet das Team Onkologie der Arzneimittelabteilung des Ausschusses. Vosgerau stellt klar: „Wenn wir bei der Zulassung und der Nutzenbewertung immer öfter mit frühen Datenschnitten aus noch laufenden Studien konfrontiert sind, dann gewinnen Endpunkte wie rezidivfreies oder krankheitsfreies Überleben, ereignisfreies Überleben, das metastasenfreie Überleben oder auch die Zeit bis zur ersten Folgetherapie eine zunehmende Bedeutung.“

© G-BA

Bewegung beim Thema Endpunkte deutet auch der unparteiische Vorsitzende des Gremiums, Prof. Josef Hecken, in einem Interview mit der Presseagentur Gesundheit an. „Möglicherweise könnte die Verlangsamung des Krankheitsverlaufs, des Progresses, oder ein kombinierter Endpunkt, der Progress und Lebensqualität betrachtet, doch patientenrelevant sein – auch wenn sich dieser Parameter in zehn Prozent der Fälle nicht in ein verlängertes Gesamtüberleben übersetzt“, sagt er. Dabei denkt Hecken auch die europäische HTA-Perspektive mit, denn wenn gewisse Endpunkte vom NICE, von den Franzosen und auch den Italienern anerkannt würden, aber in der deutschen Methodik nicht vorgesehen seien, „dann sollte man sich darüber zumindest Gedanken machen“. Der Jurist weist darauf hin, dass der Kompromissvorschlag, den die Bundesregierung eingebracht habe, die Harmonisierung der Endpunkte und deren Wertigkeit bei den europäischen HTAs als wichtiges Kriterium ansehe. Kurzum: „Wenn wir Progress als Endpunkt anerkennen, geht die Welt davon auch nicht unter.“


Keine Katzentische mehr

Auch bei der Beteiligung von betroffenen Patienten tut sich offenbar etwas, zum Beispiel bei der Konzeption klinischer Studien. Der Patientenaktivistin Eva Schumacher-Wulf zufolge wird dabei die Expertise von Betroffenen mehr und mehr gefragt – gleichwohl gebe es aber noch viel Luft nach oben. Als konkrete Verbesserungsvorschläge nennt die Chefredakteurin des Brustkebsmagazins „Mamma Mia!“ unter anderem: Patientenvertreter sollten von Anfang an in der Konzeptionsphase eingebunden werden. Außerdem seien die Experten in eigener Sache an interdisziplinären Beratungsgremien zu beteiligen, anstatt sie separat tagen zu lassen. „Die Zeit der Katzentische und Feigenblattfunktionen sollte der Vergangenheit angehören.“

Skurrile Bögen zur Lebensqualität

Eine weitere Baustelle sind die Lebensqualitätsdaten. Schumacher-Wulf begrüßt, dass diese zunehmend erhoben und bei der Nutzenbewertung des Gemeinsamen Bundesausschusses berücksichtigt werden. Allerdings ließen die verwendeten Tools zu wünschen übrig. Auch spiegelten die Fragebögen häufig nicht die Lebenswirklichkeit der Patienten wider. Ein anschauliches Beispiel dafür liefert die Charité-Ärztin Prof. Diana Lüftner. „Es macht nicht sehr viel Sinn, einer 78-jährigen Frau, die verwitwet ist, 20 Fragen zur Sexualität zu stellen. Das füllt sie nicht aus.“ Solche Drop-Outs könnten den ganzen Fragebogen nicht mehr auswertbar machen, erläutert sie auf einer Veranstaltung im Jahr 2019. An der mangelnden Aktualität der Bögen hat sich auch aktuell nichts geändert. Nach wie vor seien sie wirklich skurril, sagt Lüftner in einem Interview mit der Presseagentur Gesundheit Ende 2020. „Dass sie uns von den Patienten nicht wie ein nasser Lappen um die Ohren geschlagen werden, ist nur dem Umstand geschuldet, dass sie geduldig mit uns sind, es uns nicht nachtragen.“ Die Bögen seien größtenteils 20 bis 30 Jahre alt. Sie zu aktualisieren sei eine Mammutaufgabe – noch dazu eine, mit der man in der Forschung keine großen Meriten gewinnt, meint Lüftner, denn: „Von der Community wird diese Forschung nicht höchstwertig angesehen.“