Resilienz ist in Pandemiezeiten gefragt
Berlin (pag) – Die Pandemie ist in vollem Gang, die Diskussion darüber, welche Konsequenzen aus ihr für die Versorgungsstrukturen zu ziehen sind, auch. Fest steht bereits jetzt: Resilienz ist eine unterschätzte Zielgröße des deutschen Gesundheitswesens. Das muss sich ändern.
Der Begriff Resilienz leitet sich vom lateinischen Verb resilire ab, was „zurückspringen“ oder „abprallen“ bedeutet. Im Wortsinn bedeutet Resilienz die Fähigkeit zurückzuspringen, das heißt nach Belastungen oder Störungen in das Ausgangsstadium zurückzukehren, erläutert Resilienzforscher Dr. Florian Roth vom Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung.
Widerstandsfähigkeit in schwierigen Zeiten
In der Psychologie bezeichnet Resilienz die psychische Widerstandsfähigkeit in schwierigen Situationen und Krisen. In der Physik und den Ingenieurswissenschaften ist Resilienz ein Maß, um die Widerstandsfähigkeit von Materialien und Strukturen zu bewerten. „Doch wir können Resilienz-Konzepte auch nutzen, um ganze Systeme und deren Verhalten gegenüber Schocks und Störungen zu analysieren“, führt Roth aus. Je schneller das betroffene System seine normale Funktionsweise zurückerlange, desto resilienter sei es. Der Resilienzexperte nennt das die Fähigkeit zum „bounce back“.
Für ungleich spannender hält Roth jedoch den „bounce forward“ als erweiterten Resilienzbegriff. Dabei stehe die Fähigkeit im Zentrum, langfristig zu überleben und zu prosperieren. Ziel sei daher nicht notwendigerweise die Rückkehr in den Systemzustand vor einem Schockereignis, sondern eine kontinuierliche Anpassung unter sich verändernden Umweltbedingungen. „Durch diese Anpassung an neue Bedingungen wird der bounce forward möglich, bei dem das System nach einer Krise leistungsfähiger und langlebiger ist als davor“, erläutert Roth.
„Weiterentwicklung zu etwas Besserem“
Auch das European Observatory on Health Systems und Policies definiert Resilienz als Fähigkeit eines Gesundheitssystems, sich auf einen Schock vorzubereiten, damit umzugehen und von dem Ereignis zu lernen. Ein Schock wird wiederum als plötzlicher und extremer Wandel verstanden, der Auswirkungen auf das Gesundheitssystem habe. Es dürfe nach der Krise nicht nur darum gehen, sich lediglich von den Herausforderungen zu erholen. Es gelte, sich außerdem auf zukünftige Schocks vorzubereiten. Dies werde oft vernachlässigt, wenn die Gesundheitssysteme wieder zu einer Post-Schock-Normalität zurückgekehrt seien, mahnen die Experten.
Resilienz im Mittelpunkt
Nicht von ungefähr steht bei zwei umfangreichen Projekten, bei denen es um Lehren aus der Pandemie geht, Resilienz im Mittelpunkt des Interesses. Das Projekt der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften (acatech) „Resilienz und Leistungsfähigkeit des Gesundheitswesens in Krisenzeiten“ startete im Juli 2020. Ein zentrales Anliegen der Expertengruppe ist es, Lehren aus der Corona-Pandemie zu ziehen und Empfehlungen für ein widerstandsfähigeres Gesundheitssystem zu geben. Gefördert wird das Projekt vom Bundesministerium für Gesundheit. Ziel aller nationalen Anstrengungen innerhalb Europas muss es den Experten zufolge sein, die gesamteuropäische Resilienz mit Blick auch auf globale Zusammenhänge zu stärken. Die Belastungsgrenzen und strukturellen Ausrichtungen der Gesundheitssysteme seien innerhalb der EU, aber auch innerhalb Deutschlands divers. Entsprechend wichtig sei die Koordination und Kooperation aller beteiligten Behörden, Institutionen und weiterer Akteure auf lokaler, Landes-, Bundes- und EU-Ebene.
Modernisierung der Versorgungsstrukturen
Prof. Prof. Thomas Lenarz von der Medizinischen Hochschule Hannover sagt: „Die Versorgungsstrukturen bestimmen über die Belastungsgrenzen in einer Krisensituation. Sie sollten modernisiert und ausgebaut werden.“
Zum Beispiel brauche es mehr medizinische Versorgungszentren und ambulante OP-Zentren. Sie ermöglichten es in und nach Gesundheitskrisen, Erkrankte oder Patienten mit schweren chronischen Erkrankungen bestmöglich und schnellstmöglich zu behandeln. Notwendig sind laut Lenarz auch bessere Reserven von Medizintechnik für Diagnose und Therapie, von Labor- und Testkapazitäten und von Arzneimitteln und Impfstoffen. „Wir empfehlen ein europaweites, einheitliches und verpflichtendes elektronischen Meldesystem für Arzneimittel und Medizinprodukte.“
acatech-Präsident Karl-Heinz Streibich fordert einen ersten Datenraum im Gesundheitsbereich, um die Möglichkeiten der Digitalisierung konsequent zu nutzen. „Wir brauchen einen Datenraum, der den Austausch von Informationen in Echtzeit erlaubt und die vertrauensvolle Verarbeitung ermöglicht.“ Die Expertengruppe empfiehlt dafür eine europäische Datenraum-Architektur mit einheitlichen Standards. Diese bildet die Basis für die digitale Vernetzung der nationalen Gesundheitssysteme, im Krisenfall können Informationen europaweit konsolidiert und genutzt werden – denn eine Pandemie kennt keine Ländergrenzen.
Ungewöhnliche Partnerschaft
Die London School of Economics, das Weltwirtschaftsforum und AstraZeneca haben sich unterdessen für eine Partnerschaft für Resilienz und Nachhaltigkeit von Gesundheitssystemen – Partnership for Health System Sustainability and Resilience – zusammengeschlossen.
Deren Ziel ist es, einen entscheidenden Beitrag zur langfristigen Sicherung und Verbesserung der globalen Gesundheit zu leisten. In der Pilotphase des Projekts von August 2020 bis Januar 2021 wurde ein von Experten entwickelter Rahmen verwendet, um die Resilienz und Nachhaltigkeit der Gesundheitssysteme in acht Pilotländern zu messen: Frankreich, Deutschland, Italien, Spanien, Großbritannien, Polen, Russland und Vietnam. Für jedes Land wurden die Ergebnisse in einem Bericht publiziert, der außerdem Fallstudien sowie Empfehlungen enthält.
Das deutsche Gesundheitssystem wurde von Prof. Greiner, Universität Bielefeld, auf Resilienz und Nachhaltigkeit abgeklopft. Die Liste seiner Reformvorschläge ist lang. Als eine deutliche Schwäche, die in der Pandemie offenbar wurde, bezeichnet der Gesundheitsökonom die „jahrelange Unterfinanzierung und Vernachlässigung der kommunalen Gesundheitsämter“.
Priorisierung lokaler Gesundheitsämter
Gegenüber der Presseagentur Gesundheit macht er außerdem deutlich, dass die gut vorbereiteten Pandemiepläne nur teilweise in der Realität umgesetzt werden konnten – insbesondere was die Vorhaltung von Ressourcen angeht. „Hier wird nach Abschluss der Krise noch eine umfassende Evaluation nötig sein, wie die Vorbereitungen auf die nächste Pandemie noch besser gestaltet werden können“, sagt Greiner. In seiner Analyse hat er in allen Bereichen des Gesundheitssystems Handlungsbedarf festgestellt, um Nachhaltigkeit und Resilienz zu fördern. Für die Pandemiebekämpfung und die Steigerung der Resilienz – während und nach der Pandemie – ist eine erneute Priorisierung der lokalen Gesundheitsämter unabdingbar. Auch im Bereich der Digitalisierung im Gesundheitswesen muss Deutschland dringend aufholen.
Die Aufholjagd hat in dieser Legislaturperiode begonnen.
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Was ist ein „shock circle“?
Das European Observatory on Health Systems und Policies unterscheidet vier Stadien des „shock circle“
• Phase 1: Bereitschaft
Diese sei davon abhängig, wie anfällig und verletzbar das System für unterschiedliche Unruhen ist.
• Phase 2: Beginn des Schocks und Alarm
Der Fokus liegt auf einer rechtzeitigen Identifikation des Beginns und der Art des Schocks.
• Phase 3: Auswirkungen des Schocks sowie Management
Das System absorbiert den Schock und passt sich – wo notwendig – an, um sicherzustellen, dass die Ziele des Versorgungssystems weiterhin erreicht werden.
• Phase 4: Erholung und Lernen
Eine Rückkehr zu einer Art von Normalität findet statt, dennoch können Veränderungen als Folge des Schocks bestehen bleiben.
Weiterführende Links:
Zum Projekt der acatech: http://www.acatech.de/resilienz-gesundheitswesen