Im Gespräch

Hinter den Erwartungen zurückgeblieben

Marie-Luise Dierks zur Allianz für mehr Gesundheitskompetenz

Zwar ist Gesundheitskompetenz mittlerweile ein gesellschaftsfähiges Thema, aber echte Fortschritte kann Prof. Marie-Luise Dierks von der Medizinischen Hochschule Hannover noch nicht erkennen. Insbesondere wenn es darum geht, dass das Gesundheitssystem mit seinen Institutionen die gesundheitsbezogenen Fähigkeiten seiner Adressaten aktiv unterstützt.

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Es gibt seit einigen Jahren eine Allianz für mehr Gesundheitskompetenz und einen nationalen Aktionsplan. Erkennen Sie bei der Kompetenz von Bürgerinnen und Bürgern Fortschritte?

Dierks: Gesundheitskompetenz ist inzwischen ein „gesellschaftsfähiges“ Thema, das im Zusammenhang mit zahlreichen Initiativen, Projekten und Interventionen genutzt wird. Dies könnte man, wohlwollend betrachtet, als Fortschritt bezeichnen, und dabei unterstellen, dass diese Aktivitäten hoffentlich in der Summe mehr sind als ein neues, modernes Etikett, sondern tatsächlich Maßnahmen, die auf Wissen und Kompetenzerhöhung fokussieren.

Das klingt etwas desillusioniert…

Dierks: Tatsächlich sehe ich wenig Fortschritte bei der Umsetzung der Erkenntnis, dass Gesundheitskompetenz von Menschen vor allem davon abhängt, wie das Gesundheitssystem insgesamt, die verantwortlichen Institutionen und deren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die gesundheitsbezogenen Fähigkeiten ihrer Adressaten aktiv unterstützen. Hier braucht es mehr Konzepte, und sicher auch Anreize für eine organisationale Gesundheitskompetenzförderung, wie sie auch im Nationalen Aktionsplan und im Positionspapier des Deutschen Netzwerks Gesundheitskompetenz gefordert werden.

Wie sieht es konkret bei der Allianz aus?

Dierks: Auch die Allianz für mehr Gesundheitskompetenz ist bislang hinter den Erwartungen zurückgeblieben, klare Konzepte für die angekündigte Integration von Gesundheitskompetenz in die Aus-, Fort- und Weiterbildung und eine Stärkung der organisationalen Gesundheitskompetenz sind nicht erkennbar. Erfreulich ist jedoch, dass das bei der Gründung 2017 angekündigte Nationale Gesundheitsportal inzwischen gestartet ist, auch wenn die Kooperation mit anderen evidenz-basierten Gesundheitsportalen noch nicht abschließend geklärt ist. Zukünftig ist hier sicher auch eine Weiterentwicklung über die reine Informationsvermittlung hinaus zu diskutieren. Im Zusammenhang mit dem Nationalen Gesundheitsportal wurde im Übrigen deutlich, wie sehr inzwischen Gesundheitsinformationen als Ware begriffen werden. Dies belegen die Bemühungen großer Verlage, die aus meiner Sicht durchaus sinnvolle Initiative des Gesundheitsministers, gute Informationsseiten im Google-Ranking prominent zu platzieren, über den Klageweg zu stoppen. Um also Menschen zu befähigen, mit den An- und Zumutungen der digitalen Gesundheitswelt umzugehen, hat ja der Gesetzgeber reagiert und die Krankenkassen definitiv verpflichtet, Leistungen zur Förderung der digitalen Gesundheitskompetenz zu entwickeln und für ihre Versicherten anzubieten. Allerdings ist der § 20k SGB V eindeutig auf die Stärkung der individuellen Kompetenzen der Menschen ausgelegt. Der explizite Gedanke, dass die Organisationen selbst Anpassungen ihrer Struktur, ihrer Angebote und in ihrem Kontakt mit den Versicherten vornehmen und ihre Anstrengungen auf die Förderung der Gesundheitskompetenz ausrichten müssten, unterbleibt zunächst (noch), auch wäre durchaus eine Ausweitung einer solchen Strategie auf andere Organisationen denkbar.

Hat sich die Gesundheitskompetenz der Bürgerinnen und Bürger verbessert?

Dierks: Gemessen an den Ergebnissen des Zweiten Health Literacy Survey Germany, die das Forscherteam an der Universität Bielefeld in 2020 vergleichend zu ihrer Erhebung 2014 vorgestellt hat, leider eher nein, im Gegenteil, die aus den Selbsteinschätzungen der Befragten deutlich gewordenen Einschätzungen, wie gut sie sich im Gesundheitswesen zurechtfinden, hat sich verschlechtert. Relevant ist dabei vor allem die Erkenntnis, dass besonders im Bereich der Krankheitsbewältigung und bei der Beurteilung von Gesundheitsfragen die Unsicherheit der Menschen erkennbar angestiegen ist.

Haben Sie dafür eine Erklärung?

Dierks: Für die Entwicklung gibt es keine pauschale Erklärung. Ist es die Pandemiesituation, die besonders deutlich macht, wie wichtig vertrauenswürdige Informationen sind und wie schwer es oft auch gut Gebildeten fällt, sich zurechtzufinden? Ist es gerade die Vielfalt der Informationen, sind es immer noch intransparente Qualitätskriterien und eine sich mehr und mehr ausdifferenzierende Beratungs- und Unterstützungsvielfalt? Oder, durchaus wahrscheinlich, ein sich unter ökonomischem Druck und schwierigen Rahmenbedingungen veränderndes Kommunikations- und Informationsverhalten der Professionellen im Gesundheitswesen? Leider gibt es (noch) keinen Königsweg, wie es wirklich gelingen kann, alle Menschen im Umgang mit ihrer Gesundheit adäquat zu unterstützen und die Strukturen der gesundheitlichen Versorgung darauf auszurichten.

Prof. Marie-Luise Dierks © pag, Fiolka

 

ZUR PERSON
Prof. Marie-Luise Dierks leitet an der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) den Forschungsschwerpunkt Patientenorientierung und Gesundheitsbildung sowie den Masterstudiengang Bevölkerungsmedizin und Gesundheitswesen. 2007 übernahm sie die Leitung der ersten deutschen Patientenuniversität an der MHH. Dierks habilitierte sich zum Thema „Empowerment und die Nutzer des deutschen Gesundheitswesens“. © pag, Fiolka