Warum Corona dem Thema mehr Aufmerksamkeit verleihen könnte
Corona rückt die geschlechtersensible Medizin in den Fokus der interessierten Fachöffentlichkeit. In Bielefeld kommt die neue Disziplin in das Vorlesungsverzeichnis. An der dortigen neuen Medizinischen Fakultät Ostwestfalen-Lippe (OWL) gibt es jetzt eine Professur für geschlechtersensible Medizin – die zweite überhaupt in Deutschland.
Ab dem Wintersemester 2021/2022 wird sich an der Universität Bielefeld Prof. Sabine Oertelt-Prigione um den Aufbau der Arbeitsgruppe Geschlechtersensible Medizin kümmern. Die Internistin leitet seit 2017 auch den Lehrstuhl für Gender in Primary and Transmural Care am Radboud University Medical Center in Nijmegen, Niederlande. Sie wird künftig an beiden Standorten forschen und lehren.
Das Ziel: Translation
Eine von Oertelt-Prigiones ersten Aufgaben ist die Erstellung eines Curriculums. Auf lange Sicht geplant sei, Gendermedizin zum Prüfstoff für die Medizin-Studenten zu machen. Darüber hinaus verfolgt die Professorin das Ziel, geschlechtersensible Medizin flächendeckend zu implementieren. Nicht nur in den Vorlesungen, sondern auch in der Praxis, also in Krankenhäusern und bei den niedergelassenen Ärzten. Translation ist Sabine Oertelt-Prigione wichtig. Erleichtert wird ihr die Arbeit an der Universität dadurch, dass geschlechtersensible Medizin zum Querschnittsthema erhoben wurde. Das sei ein guter Anreizmechanismus, um die neue Disziplin im Bewusstsein aller zu verankern und eine Stufe der Normalität zu erreichen, so die Wissenschaftlerin.
Bisher gibt es in Deutschland nur eine Einrichtung, die sich regulär mit geschlechtersensibler Medizin befasst: das Institut für Geschlechterforschung in der Medizin, das 2007 an der Berliner Charité gegründet wurde. In Bielefeld gibt es nun also den zweiten Lehrstuhl. In Sachsen-Anhalt kündigte im vergangenen Jahr das Johanniter-Krankenhaus Genthin-Stendal an, zusammen mit der Margarete-Ammon-Stiftung eine Stiftungsprofessur für geschlechtsspezifische Medizin in Magdeburg ins Leben rufen zu wollen. Die Gespräche dazu laufen jedoch noch.
Gendermedizin führt Nischendasein
Die Universitäten könnten mehr tun, um der geschlechtersensiblen Medizin mehr Bekanntheit und Aufmerksamkeit zu verschaffen, findet Prof. Vera Regitz-Zagrosek, von 2007 bis 2019 Inhaberin des Charité-Lehrstuhls. Ein vom Bundesbildungsministerium gefördertes Gutachten ergab kürzlich, dass Gendermedizin an den meisten medizinischen Fakultäten ein Nischendasein führt. Bei 70 Prozent von ihnen sei die Vermittlung von geschlechtersensiblem Wissen „als unzureichend zu bezeichnen“, schreiben die Autoren.
Am weitesten fortgeschritten bei der Wissensvermittlung sind die Universitäten mit Modell- oder Reformstudiengängen. Ihnen, so das Gutachten, sei die Integration von Gendermedizin in die Curricula am häufigsten gelungen – allerdings auch nur auf „einem niedrigen Niveau von 50 Prozent dieser Fakultäten“. Eine Ausnahme bilden Kardiologie und Pharmakologie: Hier gaben fast alle der befragten 31 Fakultäten an, geschlechtsspezifische Unterschiede zu lehren, 2016 waren es nur fünf Fakultäten gewesen.
Ein bisschen hoffen die Streiter und Streiterinnen für Gendermedizin wie Regitz-Zagrosek, dass Corona dem Thema auf Dauer mehr Aufmerksamkeit bescheren und vor allem die Erkenntnis reifen lassen wird, dass mehr Forschung auf diesem Gebiet dringend notwendig ist. Sars-CoV-2 zeige, dass in der Medizin mehr auf die geschlechtsbedingten Unterschiede bei den Patienten geachtet werden müsse. Denn während das Risiko für schwere und tödliche COVID-19-Verläufe
bei Männern höher ist als bei Frauen, sind fast nur diese nach Impfungen, vor allem mit AstraZenca, von Sinusthrombosen betroffen.
Andere Symptome
Vor allem im Bereich der Kardiologie gibt es schon viel Wissen über medizinisch bedeutsame Unterschiede zwischen Mann und Frau. Ein Beispiel, das zunehmend auch in der breiten Öffentlichkeit thematisiert wird: der Herzinfarkt, der sich bei Frauen mit ganz anderen Symptomen äußern kann als bei Männern. Während Letztere meist starke Schmerzen oder Druckgefühl im Brustraum auf der linken Seite haben, klagen etwa 20 Prozent der Frauen über Übelkeit oder Erbrechen, Schmerzen im Nacken-, Kiefer- oder Schulterbereich, über Unwohlsein oder plötzliche Erschöpfung und Müdigkeit. Die Folge: Frauen gehen nicht rechtzeitig ins Krankenhaus oder laufen Gefahr, ohne richtige Diagnose wieder nach Hause geschickt zu werden.
Weitere Beispiele: Vorhofflimmern ist bei Frauen öfter mit einem Schlaganfall verbunden. Diabetes erhöht beim weiblichen Geschlecht das Risiko für eine KHK-Erkrankung um das Fünf- bis Siebenfache, bei Männern sind ist „nur“ das Drei- bis Vierfache. Für Blutdruckwerte und Blutfette müsste es je nach Geschlecht unterschiedliche Grenzwerte geben, sagt Vera Regitz-Zagrosek.
Undifferenzierte Diagnosen und Therapien
Geschlechtersensible Medizin habe nichts mit Frauenheilkunde zu tun, betont die Expertin. Ziel sei es, die Medizin für beide Geschlechter zu verbessern.Schließlich litten auch Männer unter undifferenzierten Diagnosen und Therapien. Osteoporose und Depression werden bei Männern häufig nicht erkannt, weil sie zum einen als typische Frauenkrankheiten gelten, zum anderen die Symptome sich anders äußern. Auch die Behandlung von Brustkrebs beruht bei Männern auf Erfahrungen und Forschungsarbeiten, die bei Frauen gemacht wurden. Aus diesem Grunde, so die Gendermediziner, sei es unter anderem nötig, in der Forschung (auch bei Tierversuchen) nicht nur beide Geschlechter mehr als in der Vergangenheit einzubeziehen, sondern auch die gewonnenen Daten je nach Geschlecht auszuwerten. Das passiere in der Praxis noch viel zu wenig.
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Geschlechtersensible Gesundheitsversorgung
Frauen und Männer werden im Gesundheitssystem nicht gleich versorgt. In einem Fachgespräch der Grünen-Fraktion im Bundestag diskutieren kürzlich Expertinnen, wie die Versorgung von Frauen verbessert werden kann. Aus Sicht von Prof. Gertraud Stadler, Professorin für geschlechtersensible Präventionsforschung an der Charité, braucht es in medizinischer Forschung, Lehre und Praxis sowie den Strukturen des Gesundheitssystems eine „geschlechtersensible Medizin und Gesundheitsversorgung, die die Geschlechterunterschiede in den verschiedenen sozialen Lagen mitdenkt“. In Deutschland sei man noch relativ am Anfang. Das Thema geschlechtersensible Gesundheitsversorgung sei „leider noch lange keine Selbstverständlichkeit“, bestätigt Karen Walkenhorst, Vorständin bei der Techniker Krankenkasse. Einerseits verspreche sich das Gesundheitswesen von der Digitalisierung individualisiertere Behandlungsmöglichkeiten, gleichzeitig negiere man aber selbst eine so grundlegende Kategorie wie Geschlecht. „Ein Widerspruch, den man wirklich nicht logisch erklären kann.“ Man laufe Gefahr, die geschlechtsspezifischen Fehler einfach in die digitale Versorgung zu übertragen und weiterzuentwickeln.