Experten sehen Handlungsbedarf beim Thema Daten
Berlin (pag) – Der erste Aufschlag der Veranstaltungsreihe von Gerechte Gesundheit widmet sich dem Impfen. Durch die Pandemie steht das Thema plötzlich im Zentrum des öffentlichen Interesses. Beim Online-Talk diskutieren die Experten unter anderem über mangelnde Daten, Impfbarrieren und die Unabhängigkeit der STIKO.
Die Impfstoffe gegen COVID-19 stehen „in einer historischen Kontinuität des Impfens“, sagt Prof. Eberhard Hildt vom Paul-Ehrlich-Institut (PEI). Es habe sich bereits vorher gezeigt, dass Impfen ein „sehr nachhaltiger Ansatz“ ist. Hildt nennt drei Faktoren, die maßgeblich dazu beigetragen haben, die Entwicklung der neuen Impfstoffe zu beschleunigen: die frühzeitige regulatorische Beratung der Firmen mit dem PEI, die Akzeptanz des Rolling-Review-Prozesses für klinische Studien und die internationale Harmonisierung von Studien.
Mangel an Daten
Die Entscheidungen für die laufende Impfkampagne basierten hauptsächlich auf Real World Data aus Israel, die laut Hildt „sehr, sehr hilfreich“ sind. Aber auch in Deutschland gebe es klinische Studien, aus denen Schlussfolgerungen gezogen werden könnten. Er betont: „Wir gehen nicht blind in die Zukunft, wir treffen evidenzbasierte Entscheidungen.“
Die Zahlen seien zu Beginn der Impfkampagne sehr gut erfasst gewesen, wirft Prof. Rüdiger von Kries von der Ständigen Impfkommission (STIKO) ein. Doch als die Impfungen in die Praxen verlagert wurden, sei die Datenerhebung schlechter geworden, da vonseiten der niedergelassenen Ärzte Druck ausgeübt worden sei, weniger protokollieren zu müssen. „Da gibt es sicherlich Handlungsbedarf und man würde sich wünschen, dass die Politik da auch langfristige Strukturen etabliert.“ Der Bundesminister solle sich nicht von Ärztelobbys „kleinquatschen lassen“, fordert von Kries.
Auch sein Kollege vom PEI sieht bei der Datengenerierung noch Luft nach oben. Er wünscht sich mehr belastbare Daten für Bewertungen, um frühzeitig Signale erkennen zu können. Um eine Lösung zu finden, müssten alle Player an einem Tisch zusammenkommen.
Keine Propagandaabteilung
Durch die Pandemie hat sich die Arbeit der Kommission verändert, berichtet von Kries. „Üblicherweise trifft sich die STIKO zwei- bis dreimal im Jahr, jetzt haben wir Konferenzen im Wochenrhythmus gehabt.“ Das sei viel mehr Arbeit, nicht nur für die Mitglieder, sondern insbesondere für die Geschäftsstelle. Diese sei hochprofessionell, arbeite allerdings am Anschlag. Derzeit werde sie durch Drittmittel finanziert, hier wünscht sich von Kries eine Verstetigung der Finanzierung, um die Geschäftsstelle zu stärken.
Die Politik hat in letzter Zeit viel Druck auf die STIKO ausgeübt, schneller ihre Empfehlungen auszusprechen. „Es scheint diesen Herren das Vertrauen in legitimierte Strukturen egal zu sein“, bemängelt von Kries.
Er plädiert für eine „evidenzbasierte Gesundheits-politik“. Die Unabhängigkeit der STIKO müsse gewährleistet werden, dazu sei die jetzige Struktur optimal. Die Sitzungen seien deshalb so fruchtbar, weil Experten aus verschieden Bereichen zusammensitzen und Evidenz bewerten. Es könne nicht das Ziel sein, „die STIKO in ein Bundesministerium zu verwandeln, das waltungsbefugt für Minister arbeitet und letztendlich eine Propagandaabteilung für die Ministerien darstellt“. Die Ansiedlung am RKI mache jedoch Sinn, um sich mit anderen Gesundheitsakteuren zu vernetzen.
Barrieren abbauen
Aus psychologischer Sicht beeinflussen vier Faktoren die Impfbereitschaft eines Menschen: Vertrauen in Sicherheit und Effektivität der Impfung, Einschätzung von COVID-19 als ernsthafte Erkrankung, Abwägen von Vor- und Nachteilen der Impfung, Verantwortungsgefühl für die Gemeinschaft. Aber „Impfbereitschaft führt nicht immer zur Impfung“, berichtet Philipp Sprengholz von der Universität Erfurt bei dem Experten-Talk. Grund dafür seien Barrieren wie Arbeitszeiten, kein fester Hausarzt oder Sprachschwierigkeiten. Der Psychologe plädiert darum dafür, zunächst Barrieren abzubauen und aufzuklären und erst danach mit positiven oder negativen Anreizen zu werben.
Praxisferne der Entscheider
Dass die Niedergelassenen nicht von Anfang an in die Impfkampagne eingebunden waren, bemängelt Hausärztin Prof. Nicola Buhlinger-Göpfarth: „Wir haben am Anfang nur zugeschaut.“ Problematisch seien die überbordende Bürokratie und schlechte Kommunikation gewesen. Auch die „fehlende Digitalisierung und Praxisferne der Entscheider“ hätten den Roll-out behindert. Die Medizinerin ist optimistisch, dass der Rückgang der Routine-Impfungen während der Pandemie wieder aufgeholt werden kann. „Ich erlebe umgekehrt eine zunehmende Sensibilisierung der Menschen für das Thema Impfen.“ Große Hoffnungen setzt sie auf den digitalen Impfpass, der Praxen und Patienten entlasten könnte.
Einhellige Ablehnung der Impfpflicht
Eine Corona-Impfpflicht lehnen die Experten ab. „Das werden wir in der STIKO sicher nie fordern“, betont von Kries. Autonomie sei ein hohes Gut. Hildt könnte sich höchstens vorstellen, in einzelnen Bereichen wie Pflegeheimen oder im Gesundheitswesen eine verpflichtende Impfung von den Angestellten zu verlangen. Sprengholz vermutet, dass sich die Menschen in diesem Fall ihre Freiheit an anderer Stelle zurückholen würden und beispielsweise die Influenza-Impfung ausfallen lassen würden.
Weiterführender Link:
Die ca. zweistündige Veranstaltung ist in der Mediathek der virtuellen Veranstaltungsplattform hinterlegt und kann dort, wie alle andere Veranstaltungen der Reihe, nach Registrierung bzw. Anmeldung angesehen werden: https://gerechte-gesundheit-virtuell.de/programm/vk/1-archiv/