Im Gespräch

„Öffentliche Gesundheit ist mehr als Pandemiebekämpfung“

Dr. Ute Teichert und Dr. Dirk Heinrich über neue Wege des ÖGD

Berlin (pag) – Ein Pakt soll den Öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD) nach Jahrzehnten des Sparens fit für neue Herausforderungen machen. Wird die Aufbruchsstimmung für neue Kooperationen, auch mit niedergelassenen Ärzten, genutzt? Um auszuloten, wie offen die Beteiligten dafür sind, hat Gerechte Gesundheit zum Doppelinterview geladen: ÖGD-Vertreterin Dr. Ute Teichert und der niedergelassene HNO-Arzt Dr. Dirk Heinrich tauschen sich über fehlende Vernetzung, Faxgeräte und Nachwuchsmangel aus.

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Die Politik hat in der Pandemie erkannt, dass der ÖGD gestärkt werden muss und einen Pakt für ihn geschlossen, der unter anderem 5.000 zusätzliche Stellen vorsieht. Warum entscheiden sich Mediziner für eine Arbeit auf dem Amt?

Teichert: Man entscheidet sich nicht für eine Arbeit auf dem Amt, sondern für die Arbeit am Menschen. Der ÖGD hat ein breites Spektrum an verschiedenen Aufgaben. Für Ärztinnen ist es ganz besonders interessant, weil man die Facharztbezeichnung Öffentliches Gesundheitswesen erwerben kann. Das Schöne am ÖGD ist: Sie sind in der Prävention tätig, Sie haben mit allen Altersgruppen zu tun, direkt nach der Geburt bis zum Tod – und alles dazwischen. Sie arbeiten an allen breiten Themenfeldern aus der Medizin. Außerdem sind Sie immer auf dem Laufenden, bekommen die neuesten Entwicklungen mit, um entscheiden zu können, ob es sinnvoll ist, diese anzuwenden oder nicht. Es gibt nichts Spannenderes in der Medizin.

Hat Sie das überzeugt, Herr Dr. Heinrich, gehen Sie jetzt auch zum ÖGD?

Heinrich: Nein, aber Frau Teichert hat schon recht: Der Öffentliche Gesundheitsdienst und auch die Tätigkeit für ihn werden allgemein unterschätzt. Die breite Öffentlichkeit hat schon gar keine Kenntnisse darüber, aber auch in Ärztinnen- und Ärztekreisen ist wenig Wissen vorhanden. Sie haben es ja eben mit Ihrer Frage provokant formuliert: Wollen Sie aufs Amt – das ist das Image, das damit einhergeht. Aber wir haben alle in der Pandemie gesehen, dass der ÖGD viel mehr machen müsste. Das ist kein Vorwurf an die Kolleginnen und Kollegen, die dort arbeiten, sondern er ist eben über viele Jahre kleingespart worden. Auch aus einer politischen Unterschätzung heraus. Und deswegen konnte der ÖGD nicht die Aufgaben in der Breite erfüllen, die die Pandemie erfordert.

Frau Dr. Teichert, können wir es uns leisten, einen aufgestockten öffentlichen Gesundheitsdienst für die nächste Pandemie vorzuhalten oder welche Aufgaben soll der ÖGD übernehmen, bis es wieder brennt?

Teichert: Öffentliche Gesundheit ist deutlich mehr als Pandemiebekämpfung. Wir sind an ganz vielen Stellen zuständig. Die Tatsache, dass Sie das Wasser, das aus dem Wasserhahn kommt, trinken können, verdanken Sie der Kontrolle der Gesundheitsämter, die für die Trinkwasserüberwachung zuständig sind. Sie sind auch an Schulen, Kitas und anderen Gemeinschaftseinrichtungen unterwegs. Sie sind in Umweltfragen aktiv und schreiben Gutachten. Die Gesundheitsämter leisten aufsuchende Hilfe für Personengruppen, die nicht vom normalen System erfasst werden. Ich könnte Ihnen noch ganz viele andere Beispiele nennen. 
All das ist in der Pandemie liegen geblieben, weil es in den Gesundheitsämtern nicht genügend Personal gibt, um diese Aufgaben gleichzeitig zu erfüllen. Das heißt, selbst wenn wir jetzt unter dem Eindruck von Corona aufstocken und mehr Personal bekommen, werden diese zusätzlichen Kräfte auch später in einer Zeit ohne Pandemie mehr als genügend zu tun haben. Die meisten Aufgaben bei den Ämtern, die dort zum Wohle der Bevölkerung erfüllt werden sollten, bleiben derzeit einfach liegen.

 

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Mit dem ÖGD ist ein sehr heterogenes Bild verbunden. Gemeint sind in erster Linie die örtlichen Gesundheitsämter, die Sache der Länder und der Kommunen sind. Lässt sich sagen, wo der ÖGD am besten funktioniert und ausgestattet ist?

Teichert: Eigentlich ist er grundsätzlich nicht gut ausgestattet, das ist auf allen Ebenen der Fall. Sie haben Recht, die Strukturen werden in den verschiedenen Landesgesetzen festgelegt und deswegen unterscheiden sich diese von Bundesland zu Bundesland. Auch die Aufgabenbereiche sind etwas unterschiedlich zugeschnitten. In den Ländern gibt es nicht genügend Stellen, wir haben außerdem nicht genügend Labormöglichkeiten. Im Bund gibt es keine Entsprechung für öffentliche Gesundheit. Wir haben vorwiegend auf kommunaler Ebene die Gesundheitsämter und auch die sind personell nicht ausreichend ausgestattet.

Sie sprachen von den Laborplätzen. Stellen diese eine Nahtstelle zur ambulanten Medizin dar

Teichert: Es wäre gut, wenn die Gesundheitsämter flächendeckend Labore hätten, mit denen sie zusammenarbeiten und auf die sie zurückgreifen könnten. Nicht nur für Erregernachweise, sondern auch für Umweltanalysen, Trinkwasser etc. Wir haben natürlich Referenzlabore und nationale Referenzzentren, da gibt es ein ganzes Netzwerk. Insgesamt handelt es sich um eine wichtige Schnittstelle, die noch genauer betrachtet werden sollte. Die Notwendigkeit dafür können Sie auch daran erkennen, dass die digitale Labormeldung für SARS-CoV-2 erst zum 1. Januar dieses Jahres in Betrieb genommen wurde. Dabei handelt es sich um die bisher einzige Schnittstelle, die digital funktioniert.

Herr Dr. Heinrich, welche Berührungspunkte gibt es zwischen Vertragsärzten und dem öffentlichen Gesundheitsdienst?

Heinrich: Angefangen von meldepflichtigen Krankheiten bis hin zu Hygienebegehungen in Arztpraxen und OP-Zentren gibt es immer wieder Berührungspunkte und jetzt in der Pandemie natürlich noch viel mehr. Ich möchte aber kurz darauf eingehen, was Frau Dr. Teichert angesprochen hat: dass Stellen nicht besetzt sind und dass es zu wenig Personal gibt. Rund 5.000 Stellen schaffen zu wollen, ist zwar richtig, aber am Ende des Tages müssen wir realistisch betrachten, ob wir diese Menschen überhaupt bekommen werden. Wir konkurrieren mittlerweile alle – und damit meine ich den niedergelassenen Bereich, Krankenhäuser sowie Öffentlichen Gesundheitsdienst – um die gleichen Kollegen, die mit dem Studium fertig werden. Das gilt auch für anderes medizinisches Personal, wenn ich beispielsweise an die medizinischen Fachangestellten und an das Pflegepersonal denke. Wir haben von allem nicht genug. Auch wenn man einen solchen Pakt schließt, was sicherlich richtig ist und sich gut anhört, so habe ich dennoch große Zweifel, ob die Ankündigungen mit Inhalt gefüllt werden können.

Was muss getan werden?

Heinrich: Bis heute haben sich weder die Bundesregierung noch die Landesregierungen dazu durchringen können, effektiv mehr Studienplätze für Medizin einzurichten. Selbst wenn diese eingerichtet werden, würde es noch Jahre dauern, bis diese Kolleginnen und Kollegen in der Praxis, im Krankenhaus oder im ÖGD ankommen. Wenn das nicht dringend passiert, sind das alles schöne Pläne, von denen ich nicht glaube, dass sie sich realisieren lassen.

Frau Dr. Teichert, was sagen Sie dazu? Sind die 5.000 neuen Stellen nur Makulatur?

Teichert: Ich glaube nicht, dass es nur Makulatur ist. Aber Herr Dr. Heinrich spricht wesentliche Punkte an. Das größte Hindernis, das es im Arztbereich gibt, ist die unterschiedliche Bezahlung: Ärztinnen und Ärzte im Öffentlichen Gesundheitsdienst verdienen deutlich weniger als zum Beispiel im Krankenhaus. Da kann man gar nicht mehr von Konkurrenz sprechen. Verdienst hat auch mit Wertschätzung zu tun. Bei sehr geringen Verdienstmöglichkeiten überlegen viele, ob sie eine Tätigkeit im ÖGD überhaupt in Erwägung ziehen sollen. Das ist ein ganz, ganz großer Hemmschuh. Deshalb muss bei den Tarifverhandlungen dringend etwas passieren.

Stichwort Studienplätze?

Teichert: Ich stimme hundertprozentig zu, dass wir bei den Studienplätzen anfangen müssen. Das ist natürlich nicht etwas, was die 5.000 Stellen betrifft, denn diese sind ja schon für die nächsten fünf Jahre vorgesehen. Studierende bekommen wir nicht in fünf Jahren so weit. Dabei handelt es sich um einen weiteren Hebel, den man unbedingt noch umlegen muss – wie viele andere auch. Es kommen verschiedene Faktoren zusammen. Aber ich begrüße es, dass erst einmal mit diesen 5.000 Stellen angefangen wird, was im Moment auch passiert. Es laufen bereits sehr aktive Bemühungen, Personal einzustellen.

Ist es angesichts immer knapper werdender Personalressourcen an der Zeit, über strukturelle Veränderungen und Kooperationsformen nachzudenken, bevor sich die verschiedenen Teilbereiche das Personal abwerben?

Teichert: Wir müssen die Gesundheitsversorgung insgesamt noch einmal angucken und von dem Kästchendenken wegkommen, nach dem Motto: Jeder ist in seinem Bereich. Wir müssen die Gesundheitsversorgung sektorenübergreifend und regional denken. Den Öffentlichen Gesundheitsdienst sehe ich in einer wichtigen Funktion im Versorgungsbereich, gerade in Gebieten, die strukturell nicht so gut mit ärztlichen Kollegen ausgestattet sind. Bei Impfberatungen, U-Untersuchungen etc. kann man im Sinne einer allgemeinmedizinischen Versorgung mit Sicherheit über Kooperationen nachdenken. Dafür müsste aber unser System verändert werden. Noch sind die Systeme völlig voneinander getrennt – öffentliche Gesundheit funktioniert ganz anders als die ambulante und stationäre Versorgung.

Herr Dr. Heinrich, ist damit für Sie eine rote Linie überschritten? Die von Frau Dr. Teichert genannten Leistungsbereiche stehen im EBM und werden von den Vertragsärzten abgedeckt.

Heinrich: Das wäre für mich keine rote Linie. Es ist völlig richtig, darüber nachzudenken, ob die Sektorengrenzen zwischen ambulant und stationär und auch in Richtung Öffentlicher Gesundheitsdienst richtig sind oder ob wir sie nicht abbauen müssen. Wir sind sehr dafür, diese Grenzen deutlich abzubauen. Dabei muss man sich Folgendes überlegen: Haben wir irgendwo Ressourcen, die man anders einsetzen kann? Haben wir Aufgaben, die wir möglicherweise nicht mehr in dem Maße wahrnehmen müssen, wie es momentan geschieht? In Deutschland wird noch vieles stationär behandelt, was ambulant gemacht werden könnte. Das würde, wenn man es ganz konsequent durchdenkt, Personal freisetzen, das dringend in allen anderen Bereichen gebraucht wird. Das Entscheidende ist, zu überlegen, wo die Ressourcen sind, die durch eine andere und bessere Aufgabenverteilung freigesetzt werden könnten. Ganz abgesehen natürlich von der Frage der Digitalisierung, die auch helfen kann.

Den Ärzten wird vorgeworfen…

Heinrich: … digitalisierungsfeindlich zu sein – was der größte Unsinn ist. Ich habe in meiner Praxis drei Monate nach Niederlassung, im Oktober 1996, alles auf papierlos umgestellt. Das ist viele, viele Jahre her. Im Krankenhaus hat man noch weitere 20 Jahre in der Visite die großen Charts mit sich herumgetragen. Auch in dieser Hinsicht besteht die Möglichkeit, Ressourcen zu heben. Aber die Politik ist dazu nicht in der Lage. Man versucht zwar mit Druck, das bei den Niedergelassenen hinzubekommen. Aber Frau Dr. Teichert kann Ihnen sicherlich gleich beschreiben, was in den letzten zwei Jahren an Digitalschub im öffentlichen Gesundheitswesen passiert ist.

 

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Zu dem Thema kommen wir jetzt. Sie gehören aber sicher zur Avantgarde, was die Digitalisierung angeht, Herr Dr. Heinrich, und können nicht für alle Praxen sprechen. Frau Dr. Teichert, wie sieht es bei Ihnen in den letzten eineinhalb Jahren der Pandemie aus? Ist SORMAS das Gelbe vom Ei und hoffen Sie auf die Digitalisierung, um sich mit den Niedergelassenen kurzzuschließen?

Teichert: Das wäre eine tolle Vision. In Schleswig-Holstein habe ich ein Modell von der Kassenärztlichen Vereinigung für das Kontaktpersonen-Management gesehen, bei dem die niedergelassenen Kollegen, die Kollegen von den Krankenhäusern und die von den Gesundheitsämtern angeschlossen waren. Leider hat es sich nicht durchgesetzt und ist meines Wissens als Modellprojekt in Schleswig-Holstein geblieben. Die Gesundheitsämter haben insgesamt einen Digitalisierungsschub mitgemacht oder machen ihn derzeit noch mit. Ein wesentlicher Schritt war, dass seit Januar endlich die Labormeldungen auf dem digitalen Weg kommen. Aber es gibt noch viel zu tun.

Zum Beispiel?

Teichert: Die Gesundheitsämter sind untereinander noch nicht vernetzt, können keine Daten auf digitalem Weg austauschen, weil die Schnittstellen fehlen. SORMAS ist ein tolles Programm für das Kontaktpersonen-Management. Momentan nutzt es rund ein Drittel aller Gesundheitsämter in Deutschland aktiv. Aber bei den anderen Ämtern besteht in dieser Hinsicht noch eine Lücke. Jetzt sprechen wir aber nur vom Kontaktpersonen-Management, bei allen anderen Aufgabenbereichen ist an Digitalisierung noch überhaupt nicht gedacht.

Wann ist der ÖGD so ausgestattet, dass er wirklich digital „mitspielen“ kann?

Teichert: Das wird sicher noch dauern. Im Moment wird gerade erst erfasst, wie die Strukturen sind. Da es keine Vorgaben gibt, entscheidet jedes Amt selbst, wie es sich in der IT aufstellt und mit wem es wie kommuniziert. 
Außerdem sind sie an die Struktur der Verwaltung angebunden, da können die Ämter manchmal gar nichts machen angesichts der Vorgaben, die vor Ort gelten. Solange es kein einheitliches System gibt, wird es schwierig werden, dass sie überhaupt miteinander ins Gespräch kommen.

Heinrich: Genauso lange werden wir weiter die Befunde an das Gesundheitsamt faxen – wie zur Steinzeit, jetzt allerdings mit Voice-over-IP und damit nicht mehr sicher. Das muss man sich einmal vorstellen: Im Jahr 2021 faxen wir mit dem Gesundheitsamt über nicht mehr sichere Leitungen.

Herr Dr. Heinrich, wie bekommt man das geheilt? Lassen Sie uns doch ein wenig mutiger denken. In der Pandemie haben wir gesehen, dass Dinge gehen, die vorher nie geklappt haben. Soll der ÖGD zum Beispiel zur gematik mit an den Tisch?

Dr. Heinrich: Das Problem ist ja noch viel tiefgreifender. Frau Dr. Teichert hat es sehr schön dargestellt: Sie haben 16 Bundesländer und über 300 Gesundheitsämter, die bei den Kreisen angedockt sind. Der Verwaltungschef sagt: „Wir haben aber das Programm und wir machen das so, wie wir es hier immer gemacht haben.“ Das ist wie ein gordischer Knoten, den Sie in diesem Fall nur von oben nach unten durchschlagen können und nicht von unten nach oben. Sie müssen eine Struktur einziehen, ausgehen muss das vom Bundesgesundheitsministerium, welches diese Aufgabe wahrnimmt. Dann muss der Prozess von oben nach unten durchdekliniert werden, und zwar ganz brutal. Die Verwaltung muss sich verbiegen mit ihren Systemen und nicht Frau Dr. Teichert mit ihren Kollegen.

Das war eine Ansage. Frau Dr. Teichert, was muss sich aus Ihrer Sicht ändern?

Dr. Teichert: Gesundheitsdaten müssen geschützt werden, nicht nur von den Gesundheitsämtern, sondern im gesamten System. Das bedeutet natürlich, dass die Gesundheitsämter einen Anschluss an die Telematik-Infrastruktur bekommen. Auch zur elektronischen Patientenakte brauchen sie einen Zugang. Ein System, mit dem wir allgemein geschützte Gesundheitsdaten transportieren, muss vorgegeben werden. Auf alle Befindlichkeiten kann nicht Rücksicht genommen werden, weil es eine zu große Vielfalt gibt. Wir brauchen ein zentrales System, dem sich alle anschließen können.

Frau Dr. Teichert, Herr Dr. Heinrich, vielen Dank für das Gespräch, in dem wenig Streit steckte, stattdessen waren viele Gemeinsamkeiten zu entdecken.