Im Fokus

Öffentlicher Gesundheitsdienst – Aufbruch wohin?

Vielversprechende Perspektiven für ÖGD und Public Health

Berlin (pag) – Public Health steht in Deutschland am Scheideweg. Durch den Pakt für den Öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD) eröffnen sich Chancen für eine Weiterentwicklung. Gerechte Gesundheit widmet sich in der Online-Veranstaltungsreihe „Aufbruch in eine neue Dynamik“ diesem Thema.

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Gesundheitsämter stehen in Zeiten von Corona im Zentrum des Geschehens. Doch sie leisten viel mehr als nur Infektionsschutz und müssen auch für kommende Herausforderungen gewappnet sein. Denn die nächsten Krisen sind schon da. Der Gesundheitswissenschaftler und Mediziner Prof. Helmut Brand nennt auf der Online-Veranstaltung „Öffentlicher Gesundheitsdienst – Aufbruch wohin?“ die Antimicrobial resistance (AMR) und den Klimawandel, die den Public-Health-Sektor „noch stärker als die Epidemie“ fordern werden. Hinzu kommen „Dauerbrenner“ wie soziale und gesundheitliche Ungleichheit sowie der demografische Wandel.
Angesichts dieser Herausforderungen meint er: „Deutschland braucht ein Virchow-Institut“ – eine Einrichtung, die Public Health und ÖGD strukturiert und einen Brückenschlag zwischen Bund und Ländern, Forschung und Praxis, den Landesinstituten und Landesgesundheitsämtern leistet. Angesiedelt werden könnte es am Robert Koch-Institut oder an einem möglichen Bundesgesundheitsamt.

„Historische Chance“

Brand stellt zudem fest, dass das Thema im Bundestagswahlkampf durchaus eine Rolle spielte. „Alle wollen den ÖGD stärken“, hält er fest. Den Startschuss dafür lieferte allerdings die noch amtierende Bundesregierung mit dem Pakt für den Öffentlichen Gesundheitsdienst. Diesen bezeichnet Dr. Ute Teichert als „historische Chance“ und als „Novum“. Für die Vorsitzende des Bundesverbandes der Ärztinnen und Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes ist es aber nur ein erster Aufschlag, notwendig sei eine Verstetigung. „Wir brauchen einen ÖGD-Pakt 2.0“, wünscht sich die Medizinerin. Zwar seien durch die jetzigen Maßnahmen 5.000 Stellen zugesagt, notwendig seien aber mindestens 10.000, nennt sie ein Beispiel. Doch es geht nicht nur um Personal. So wie Brand wünscht sie sich eine neue Struktur auf Bundes- und Landesebene zum Beispiel durch ein Zentrum Öffentliche Gesundheit sowie eine flächendeckende Einrichtung von Landesgesundheitsämtern. Mit diesen und anderen Fragen beschäftige sich bereits der Expertenbeirat, der im Zuge des ÖGD-Pakts ins Leben gerufen worden ist. Teichert wünscht sich zudem, dass man über ambulant und stationär hinausdenkt, die ÖGD-Säule immer stärker wird.

Kein Konkurrenzkampf

Aber wird der ÖGD so attraktiv, dass er mit Krankenhaus und Praxis konkurrieren kann? „Im Medizinbereich haben wir den großen Wettbewerb der Kräfte“, meint Brand. „Da ist die Frage, ob der ÖGD da mithalten kann.“ Dr. Frank Renken, Leiter des Gesundheitsamtes in Dortmund, sieht allerdings keine Konkurrenzsituation – zumindest nicht zwischen ÖGD und Niedergelassenen. „Wenn ich in meinem Gesundheitsamt Ärztinnen oder Ärzte suche, suche ich niemanden, der sich gleichzeitig in einer Praxis bewirbt“, betont er. „Ich suche Ärztinnen und Ärzte, die über den Tellerrand der Individualmedizin hinausschauen.“ Und das Gesundheitsamt benötige nicht nur Ärzte, auch Public-Health-Experten, Soziologen oder Biologen sind gefragt, betont er. „Wir haben mehrere multiprofessionelle Teams.“ Die Aufgabenbreite der Gesundheitsämter gehe weit über das rein Medizinische hinaus. Den ÖGD-Pakt begrüßt er ebenfalls, wünscht sich aber wie seine Vorredner eine weitergehende Förderung und Strukturierung, gerade für die künftige Arbeit. Die sieht er in der Prävention und in der Vernetzung mit Trägern und Organisationen in den Kommunen. „Untrennbar damit verbunden ist die Gesundheitsberichterstattung.“ Monitoring und Bedarfserhebungen seien unerlässlich. Auch auf der akademischen Seite müsse sich noch viel tun. „Wir haben keine einzige Fakultät in Deutschland, die uns vertritt.“

Sozialbedingte Ungleichheiten

Für Prof. Rolf Rosenbrock, Vorsitzender des Paritätischen Gesamtverbands, ist die Prävention eine Schlüsselaufgabe des Öffentlichen Gesundheitsdienstes. Er könne ein wichtiger Pfeiler im Kampf gegen die „sozialbedingten Ungleichheiten“ werden. Die Verminderung dieser dürfe nicht alleinige Aufgabe der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) bleiben, wünscht sich der Gesundheitswissenschaftler. Der dazu passende Paragraf 20 im Sozialgesetzbuch V bedürfe einer Novellierung. „Die Vermehrung von präventiven Aktivitäten ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Und die GKV ist nicht die Gesamtgesellschaft.“ Er und andere Gesundheitswissenschaftler wünschen sich, dass die Nationale Präventionskonferenz keine reine „Kassenveranstaltung“ bleibe, sondern sich auch den Kommunen öffne. „Wir fordern eine viel stärkere koordinierende Rolle des Gesundheitsamtes“, sagt er. Man müsse an gemeinsame Ursachen – Mangel an Teilhabe und Mangel an individuellen Gesundheitsressourcen – von Krankheiten wie Krebs, Diabetes oder COPD herangehen. „Sie sind Bestandteil und Treiber der sozialbedingten Ungleichheiten“.

 

Die Zeichen stehen beim ÖGD auf Wandel: Moderatorin Lisa Braun (oben links) diskutiert mit Helmut Brand (oben rechts), Frank Renken (unten links) und Ute Teichert (unten rechts) über historische Chancen und Schlüsselaufgaben für den ÖGD. © Twitter, Screenshots: pag