Im Fokus

Der Stellenwert von Diagnostika

Neue Wertschätzung für Tests und Co.?

Berlin (pag) – Durch die Pandemie kennen heutzutage selbst Laien PCR-Tests und andere Diagnostika. Im fünften Teil der Veranstaltungsreihe „Aufbruch in eine neue Dynamik“ von Gerechte Gesundheit diskutieren Experten Probleme und Chancen des Leistungsbereichs.

Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) berücksichtigt nach Überzeugung des Gesundheitsökonomen Prof. Jürgen Wasem, Universität Duisburg-Essen, nicht nur Qualität und Nutzen der Diagnostika, sondern auch deren Kosten. Allerdings habe das Gremium eine „verkürzte Sicht“ auf die Gesundheitsökonomie. Damit meint Wasem: Eigentlich müssten die Grenzkosten und -nutzen von mehr Diagnostik einschließlich der Krankheitskonsequenzen betrachtet werden. Oft verstecke der G-BA allerdings die Wirtschaftlichkeitsdimension „unter einem kritischen Nutzenblick“. Anstatt zu sagen, dass etwas zwar nütze, aber zu teuer sei, erkenne das Gremium den Nutzen nicht an – um dem Eindruck der Rationierung entgegenzuwirken.

 

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Eher zu wenig als zu viel

„Der Einsatz von Diagnostika in der medizinischen Versorgung hängt ganz zentral von den Anreizen für die Leistungserbringer ab“, konstatiert Wasem bei der Talkrunde. Die Anreize seien darauf ausgerichtet, eher zu wenig als zu viel Diagnostik zu machen. Im Krankenhaus sei der Großteil der Diagnostik in den DRGs einbudgetiert. „Das Krankenhaus, das mehr Diagnostik macht, hat also mehr Kosten und nicht mehr Erlöse.“ Das gelte auch für die ambulante Versorgung und den Laborbereich. Man müsse daher ein Anreizsystem finden, „bei dem es sich nicht scharf nachteilig auswirkt, wenn ich mehr Diagnostik mache“. Wasem schlägt vor, bei NUB-Ausgleich und extrabudgetären Leistungen nachzujustieren.

Mit Blick auf das Positionspapier des Verbands der Diagnostica-Industrie (VDGH), in dem kritisiert wird, die GKV priorisiere Kostendämpfung gegenüber Innovationen, stellt Wasem klar: „Innovationsförderung als solche ist nicht Aufgabe der GKV.“ Vielmehr sei es ihre Aufgabe, für die Patienten nützliche Innovationen in die Versorgung zu bringen.

Es wird zu wenig getestet

Dr. Michael Müller, Vorstandsvorsitzender des Verbands der akkreditierten Labore in der Medizin (ALM), berichtet von den Schwierigkeiten im Winter 2020/2021, die nötigen Kapazitäten für Coronatests bereitzustellen. Ein Jahr später werden trotz wesentlich höherer Kapazitäten weniger Tests durchgeführt. „Es wird zu wenig getestet“, mahnt Müller auf der Veranstaltung im November, „und das bedeutet auch, dass wir aktuell eine Untererfassung haben“. Gleichzeitig führe die Pandemie zu einem deutlichen Rückgang der Laborüberweisungen bei anderen Krankheiten wie Diabetes, Nieren- oder Infektionserkrankungen. „Bis zu 80 Prozent weniger wurden solche diagnostischen Leistungen abgefragt.“ Es sei wichtig, in der Pandemie die Grundversorgung aller anderen akuten und chronischen Erkrankungen aufrechtzuerhalten, appelliert Müller

Hoffnung auf ursächliche Therapie bei Alzheimer

Die Bedeutung einer frühzeitigen Diagnostik stellt Prof. André Fischer vom Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen am Beispiel Alzheimer dar. Bei der Diagnose der Erkrankung gebe es ein grundlegendes Problem: „Die Patienten werden zu einem Zeitpunkt diagnostiziert, wo eine ursächliche Therapie scheitern muss.“ Meist gingen die Betroffenen erst in eine Klinik, wenn jemandem etwas an ihrem Verhalten auffalle. Zu diesem Zeitpunkt sei die Degeneration des Gehirns aber bereits zu weit fortgeschritten. Bereits heute sei es möglich, Alzheimerpatienten mittels Nervenwasser-Analyse oder MRT zu diagnostizieren, das ist jedoch „invasiv, infrastrukturell sehr aufwendig und kostenintensiv“, bemängelt Fischer.

Große Hoffnungen setzt er auf screeningfähige Biomarker, microRNA-Signaturen, zur Früherkennung von Risikopersonen. Diese seien minimalinvasiv, einfach und kostengünstig. Die so identifizierten Menschen könnten dann die diagnostischen Verfahren erhalten und hätten eine Chance auf eine ursächliche Therapie. Die Entdeckung befindet sich im Forschungsstadium und muss noch bestätigt werden. Fischer erhofft sich eine Praxistauglichkeit in weniger als zehn Jahren, zum Beispiel in Form eines Lateral Flow Tests.

Neue EU-Verordnung bereitet Probleme

Dr. Martin Walger, Geschäftsführer des VDGH, legt in seinem Impulsvortrag einen Schwerpunkt auf die neue europäische IVD-Verordnung, die im Mai 2022 in Kraft tritt. Diese sorge für massive Verschärfungen für Hersteller und benannte Stellen. „Leider muss man sagen, was die Brüsseler Beamten sich da ausgedacht haben, geht ziemlich an der Sache vorbei“, sagt der Experte. Mitte Oktober hat die EU-Kommission einen Änderungsvorschlag eingereicht, der den beteiligten Ländern längere Übergangsfristen einräumen würde.

Zum Zeitpunkt der Veranstaltung waren erst sechs von 22 geplanten benannten Stellen nach dem neuen Recht anerkannt, denn für sie gelten schärfere Vorgaben zum Beispiel beim Personal. Gleichzeitig drängen mehr IVD auf den Markt. Laut Walger gibt es vier- bis fünfmal so viele Produkte, die den Prozess mit einer benannten Stelle durchlaufen müssen. Dies führe zu einem „ganz schwierigen Engpass“, der die flächendeckende Versorgung mit IVD infrage stellt. „Wenn wir im Mai 2022 ohne geänderte Übergangsregelungen so in die Versorgung starten würden, dann werden wir sehen, dass ein erheblicher Teil der Produkte bis dahin gar kein neues CE-Kennzeichen bekommen kann.“